Wir aus der älteren Generation haben noch mit erschauernder Begeisterung die Geschichten aus „1001 Nacht“ gelesen, ging es dort doch nicht nur um seltsame Sitten und Gebräuche, sondern auch um – fast beiläufig erwähnte – Gewalt. Die heutige Kinder und Halbwüchsige dagegen verfügen über andere Quellen der geistig-seelischen Freizeitgestaltung. Die „Neue Bühne Darmstadt“ hat sich jetzt dieser verschütteten Erfahrung angenommen und die Sammlung in bewusst epischer Weise auf die Bühne gebracht.
Warum der Titel in „1002 Nächte“ umgewandelt wurde, erschließt sich dem Betrachter nicht; es könnte lizenzrechtliche Gründe haben, aber auch darauf verweisen, dass am Ende der angsterfüllten 1001 Erzählernächte die erste angstfreie Nacht folgt. Dieses bleibt in der Inszenierung jedoch offen, da Regisseurin Renate Renken wohl davon ausging, dass ihr Publikum die letztlich gut ausgehende Geschichte kennt.
Die eigentliche Erzählung ist – wie eine Zwiebel – in eine mehrfache Rahmenhandlung eingebunden. Eine Heroldin(?) im schlichten Büßergewand und mit Wanderstock verkündet, ähnlich dem „Prolog“ in Goethes „Faust“, die immerwährenden Botschaften der Geschichten und moderiert sie am Ende auf ähnliche Weise ab. Dann folgt die Geschichte der beiden rivalisierenden Brüder, die auseinandergehen, sich aber die Verheiratung ihrer – noch nicht geborenen – Kinder zusagen, wobei sie natürlich, getreu dem Märchencharakter, unterschiedliches Geschlecht voraussetzen.
Sprung: Die beiden Brüder sind in ihren jeweiligen Heimatstädten zu Amt und Würden gekommen, doch dann fällt der eine in Ungnade, wird hingerichtet, und sein Sohn muss fliehen – natürlich zu seinem Onkel und dessen Tochter. Dort wiederum regiert ein zynischer Sultan, der jede Nacht eine andere Jungfrau heiratet, um sie dann am nächsten Morgen hinrichten zu lassen. So kommen auch die beiden Töchter des Onkels zum Sultan, doch die Ältere, schon immer eine Büchernärrin, beginnt, dem Sultan Geschichten zu erzählen. Um die jeweilige Fortsetzung zu hören, schiebt dieser die Hinrichtung jeden Morgen – ungerührt! – um einen Tag auf. Das geht laut Märchenbuch tausend Tage, doch Renate Renken hat darauf verzichtet, alle diese tausend Geschichten zu inszenieren, und beschränkt sich auf wenige exemplarische. Aber auch das nimmt bereits drei Stunden einschließlich Pause in Anspruch.
Für das Publikum ist das nicht ganz einfach, spielen doch die selben Darsteller die Figuren der Rahmenhandlung, der beiden Generationen und auch noch die der erzählten Geschichten. Da das alles im Orient einer lange vergangenen Zeit spielt, helfen auch die Kostüme nicht bei der Orientierung. Doch das spielt eigentlich keine Rolle, denn der Kern dieser Aufführung steckt in den Erzählungen mit ihren metaphorischen und didaktischen Lehren. Da geht es immer wieder um Macht, Eifersucht, Neid und Liebe – verschmäht und gewährt. Diese Szenen gestaltet das Ensemble mit viel Witz und Gefühl und auch mit originellen Kostümen. Da treten Axel Raether, der ansonsten nur den aufbrausenden Machtmensch gibt, und Nicole Klein als gefühlige Djinns mit Riesenohren und Gaze-Umhängen auf, oder letztere spielt in einem ausgefallenen grau-weißen Kostüm einen Esel einschließlich eines langezogenen „Iaaaah“. Bernadette Schlottbohm und Vivian Pantea Seifert stehen über lange Zeit als die beiden Schwestern im Mittelpunkt und gestalten die Szenen immer wieder neu. Dann wieder spielen drei nicht identifizierbare Ensemblemitglieder als Löwe, Wolf und Fuchs eine lehrreiche Fabel über Macht und deren Mangel, und immer wieder versinken die Herren mit ihren jeweiligen Gespielinnen hinter einem diskreten Vorhang in weichen Decken und Kissen, um das zu tun, was die blumige Sprache der orientalischen Märchen – zumindest in der deutschen Übersetzung – dem unwissenden Publikum mit deutlichen Worten erklären zu müssen glaubt. Diese poetische Umschreibung recht natürlicher Lebensvorgänge sorgt natürlich immer wieder für Heiterkeit im Publikum.
Nach drei Stunden endet dann die Aufführung ohne konkretes „Happy End“, aber es zeichnet sich deutlich ab, dass der zynische Sultan durch die Erzählungen der Scheherazade vom Saulus zum Paulus geworden ist und sie lebenslang in seinen Ehekerker führen wird, anstatt sie dem Henker zu überantworten.
Eine abwechslungsreiche und in jeder Hinsicht sinnliche Inszenierung dieses Klassikers, die sich den kräftigen Beifall verdient hat.
Frank Raudszus
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