Wer die Trilogie „Kindheit“ (Original 1967), „Jugend“ (Original 1967) und „Abhängigkeit“ (Original 1971) sowie „Gesichter“ (Original 1968) der dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen gelesen hat, war sicher gespannt auf die Biografie von Jens Andersen, die im Oktober 2023 in der Übersetzung aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg im Aufbau Verlag erschienen ist. Tove Ditlevsen ist 1917 in Kopenhagen geboren und 1976 in Kopenhagen gestorben. In Deutschland war Tove Ditlevsen bis vor ein paar Jahren kaum bekannt, bis der Aufbau Verlag die Trilogie und andere Werke in der Übersetzung von Ursel Allenstein 2023 neu herausgab.
Die autofiktionalen Romane von Tove Ditlevsen erzählen von ihrer Kindheit und Jugend im Arbeiterviertel von Kopenhagen, von großen materiellen Entbehrungen und einer sehr harten, unerbittlichen Mutter sowie von Toves früher Neigung zur Literatur und zur Abfassung von Gedichten. In „Abhängigkeit“ und „Gesichter“ lässt sie uns teilhaben an ihrem Abgleiten in Drogensucht und Psychosen. Wir erfahren viel über ihre Sicht auf ihre Umwelt, über ihre eigenen Zweifel und ihre Verzweiflung, über ihr immer wieder scheiterndes Streben nach einem bürgerlichen Leben. Die fiktionalisierten Figuren sind sowohl Tove Ditlevsen als auch Personen aus ihrem unmittelbaren Umfeld deutlich zuzuordnen.
Von einer Biografie hatte ich mehr den Blick von außen auf Tove Ditlevsen erwartet, um mehr über sie zu erfahren als das, was sie selbst preisgibt.
Jens Andersen wählt jedoch einen anderen Weg. Er geht im Wesentlichen an Tove Ditlevsens Werk entlang und zeichnet von den frühen Gedichten bis zu den späten Werken ihren Weg nach. Da wird durchaus vieles deutlicher, insbesondere auch, was ihr Verhältnis zu ihren vier Ehemännern anbetrifft. Alle Beziehungen scheitern schließlich. Andersen entwickelt das Bild einer Frau, die mit ihren inneren Widersprüchen so beschäftigt ist, dass sie offenbar zu einer konstruktiven Beziehung nicht fähig ist. Auch zu ihren drei Kindern (von drei verschiedenen Männern) kann sie keine verantwortungsvolle Beziehung als Mutter aufbauen.
Umso erstaunlicher ist, welche Kraft sie hat, gerade in Phasen größter Verzweiflung und psychotischer Verstörung literarisch produktiv zu sein, Gedichte und Romane zu schreiben. Andersen geht ihrer Entwicklung als Schriftstellerin mit viel Verständnis gerade für ihre oft sehr hermetische Lyrik nach. Sein großes Verdienst ist, dass er viele dieser Texte wörtlich zitiert und uns als Leserinnen einen unmittelbaren Einblick in Tove Ditlevsens lyrisches Werk verschafft. Darüber hinaus schildert er, welche Rolle sie in der literarischen Szene Dänemarks spielt. Auch hier ist sie sperrig, wehrt sich etwa, gewisse Moden einer jüngeren Lyriker-Generation mitzumachen, auch wenn sie dafür als rückständig angefeindet wird.
Dabei zeigt er durchaus, wie sie sich durch die Begegnung mit ihren jeweils zukünftigen Ehemännern weiterentwickelt und neue Impulse aufgreift. Erstaunlich bleibt, dass sie in Dänemark viele Preise erhalten hat, hier in Deutschland aber nur Wenigen bekannt war. Der höchste dänische Literaturpreis blieb ihr jedoch verwehrt.
Andersen zeichnet das Bild einer außergewöhnlichen Frau, die sich immer wieder über bürgerliche Normen hinwegsetzt und nicht davor zurückschreckt zu provozieren. Umso erstaunlicher, dass sie über lange Zeit in ihrer vierten Ehe diejenige ist, die mit Kolumnen in Zeitschriften, insbesondere als Ratgeberin in einem Kummerkasten für Leserinnen, den Unterhalt der Familie sichert.
Andersen legt ein besonderes Augenmerk auf den Gegensatz zwischen der „Frauen-Ratgeberin“ und der Lyrikern und Schriftstellerin. So kritisch und vehement sie in ihrem literarischen Werk gegen patriarchalische Normen und frauenfeindliche Strukturen in der Ehe und in der Gesellschaft angeht, so konservativ ist sie in ihren Ratschlägen für die Leserinnen. Da rät sie zu Anpassung, zur Weiterführung der Ehe, auch wenn man sich unglücklich fühlt; ein Arrangement mit den gegebenen Bedingungen sei besser, als alles zu zerstören. Sie rechtfertigt diese Position damit, dass sie aus eigener Erfahrung weiß, dass ein Ausbruch aus bestehenden Bindungen viel Kraft erfordert und selbstzerstörerisch sein kann. Sie kann also ihr eigenes Leben nicht als Maßstab für ihre Ratschläge nehmen.
Insgesamt schafft Andersen ein umfassendes Bild dieser egozentrischen und zerrissenen Frau, die gleichzeitig große poetische Kraft entwickelt, die den Texten einer Annie Ernaux weit überlegen sind. Dennoch hätte ich mir gewünscht, mehr Stimmen von außen zu hören, um die Selbstwahrnehmung Tove Ditlevsens im Spiegel ihrer Umwelt besser beurteilen zu können. Im Wesentlichen hören wir die Stimme ihres vierten Ehemannes. Aber auch das ist nur eine Sicht, die mit Sicherheit keine objektive Außensicht bietet, ist er doch auch immer gleich Teil ihrer Probleme.
Andersen berichtet fast nichts über Auswirkungen von Tove Ditlevsens Leben auf ihre drei Kinder, geboren 1943, 1946 und 1954. Die beiden älteren sind bereits verstorben, nur der Sohn Peter Andreasen aus der letzten Ehe lebt noch. Aber auch von ihm gibt es keine Stellungnahme. Möglicherweise hat er es abgelehnt, sich zu seiner Mutter zu äußern.
Insgesamt ist die Biografie ein guter Einstieg in das Werk von Tove Ditlevsen, wenn man verstehen will, aus welcher inneren Not sie schon früh als Autodidaktin aus einem bildungsfernen Arbeiterhaushalt zur Literatur gefunden hat. Noch empfehlenswerter ist es, dann auch zu ihren Büchern zu greifen. Man muss sich dann nur darauf gefasst machen, dass die Lektüre von Tove Ditlevsen alles andere als leichte Kost ist.
Das Buch ist im Aufbau Verlag in der Übersetzung aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg erschienen, hat 224 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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