Hölderlins berühmte „Patmos“-Hymne mit dem viel zitierten Satz „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ lässt sich auch auf die Inszenierung von Giuseppe Verdis Oper „Otello“ am Staatstheater Darmstadt übertragen, nur dass man hier den ersten Teil dieses Satzes in „Wo aber Regie-Gefahr ist“ abändern muss. Der Titel dieses Textes weist dann darauf hin, dass die gesanglichen Leistungen an diesem Abend das Debakel verhinderten, auf das die Regie zusteuerte.
Das beginnt schon in der ersten Szene vor und während der Ouvertüre. Da wird die Bühne zu einer hektischen Bürolandschaft umfunktioniert, in der die Mitglieder des Chors entweder ständig telefonieren oder in hektischer Betriebsamkeit Akten sichten oder heftig diskutieren. Programmheft und Einführung hatten da bereits das Publikum belehrt, dass der Regisseur diese Oper als Computerspiel inszenieren würde. Nun ist es zwar eine eigene Diskussion, was „Otello“ mit einem Computerspiel zu tun hat, und wir werden diese etwas später führen, aber hier ist nur anzumerken, dass sich eine hektische Büroumgebung weder mit dem „Otello“-Stoff noch mit einem PC-Spiel assoziieren lässt. Ein Spiel – ob analog oder am Computer – hat stets kreativen, ausprobierenden Charakter und lässt sich nach einem Scheitern von Neuem beginnen. So gesehen hat es etwas Leichtes, Unverbindliches an sich. Das ist jedoch weder in einer modernen Büroumgebung – wo es um Effizienz geht – noch im „Otello“-Stoff der Fall.
Es drängt sich daher der Gedanke auf, dass es dem Regisseur in erster Linie darum ging, etwas „Neues“ zu probieren, koste es, was es wolle. Logische Stringenz spielt keine Rolle, und notfalls kann man Bedeutung auch über gängige moralische Schwergewichte erzielen. Doch dazu kommen wir noch. Inszenierungen mit überraschenden Assoziationen sind im Theater keine Neuigkeit, sei es die Verlagerung eines alten Stoffes in despotische Systeme – etwa durch Nazi-Uniformen – oder in kapitalistische „Ausbeutungs“-Systeme. Doch meist versuchen die Regisseure, die logische Kongruenz zwischen dem Stoff und dem neuen Kontext herauszuarbeiten. Das ist bei dieser Inszenierung eindeutig nicht der Fall.
Es beginnt daher gleich nach Abräumen der – nicht wieder auftauchenden – Büroumgebung mit einer Spielesituation, die durch ein auf einem Bildschirm ablaufendes Spiel im Hintergrund markiert wird. Dabei tragen die digitalen Figuren die gleichen Kostüme wie die etwas verloren vor all dem bunten Geflimmer auf der Bühne agierenden Darsteller. Alle sind mit etwas künstlichen Kostümen eines vermeintlichen Piratenzeitalters („Fluch der Karibik“) geradezu verkleidet, Rückschlüsse auf den historischen Hintergrund lassen sich daraus nicht ziehen. Dass sich das Drama nach den historischen Kenntnissen irgendwann Ende des 15. Jahrhunderts ereignet, spielt für die Regie keine Rolle, muss es jedoch auch nicht.
Der wesentliche Eingriff in die Handlung erfolgt jedoch über einen gelbhaarigen Avatar in der Kajüte eines alten Segelschiffes, der das Publikum darüber informiert, dass es gewisse Abläufe im digitalen Hintergrund dieser Inszenierung durch Eingriffe via Handy mitgestalten kann. Und so erscheinen dann nach dieser etwas länglichen Filminstruktion in gewissen Abständen Fragen zum Ablauf des Spiels auf den Bildschirmen im Mittelgrund einschließlich der prozentualen Verteilung der Antworten. Tatsächlich richten sich dann dieses Szenen nach den mehrheitlichen Antworten.
Die geneigten Leser werden hier wahrscheinlich Hinweise auf die Opernhandlung vermissen. Ja doch, diese verläuft auch irgendwo zwischen den flackernden Bildschirmen und den auf Gaze-Vorhängen projizierten Spieleszenen. Man kann sogar die Darsteller von ihren digitalen Avataren unterscheiden, und gesungen wird auch. Doch die Augen und damit die Aufmerksamkeit des Publikums sind derart von dem digitalen Drumherum in Anspruch genommen, dass die Opernhandlung darüber zur Nebensache wird.
Das wird auch dadurch noch verstärkt, dass die „echten“ Darsteller den künstlichen, meist ruckartigen Bewegungsablauf der digitalen Figuren nachahmen müssen, wenn sie nicht gerade in Aktion sind. Will heißen, wenn Jago (Aris Argiris) sich nicht gerade sängerisch eine Gemeinheit ausdenkt, zuckt er wie eine nicht bewusst gesteuerte Digitalfigur. Und Desdemona (Megan Marie Hart) erinnert in ihrem Kostüm und ihren – so intendierten! – Bewegungsabläufen eher an Offenbachs Puppe Olympia denn an die bei Verdi emotional und moralisch hoch angesiedelte Frau eines Außenseiters. Am unabhängigsten von der Regie darf Gaston Rivero als Otello agieren, wohl, weil dieser sich von Anbeginn an in Extremsituationen befindet. Dagegen haben Ricardo Garcia als Cassio und Marco Mondragon als Roderigo kaum Chancen, ihre Figuren der bewussten Hölzernheit des digitalen Spiels zu entziehen.
Das Ganze könnte man – und muss man wohl auch – als einen glatten Regie-Reinfall betrachten, wären da nicht die glänzenden sängerischen Leistungen. Gaston Rivero bringt Otellos wachsendes Misstrauen und seine finale Verzweiflung mit ebenso großer darstellerischer wie sängerischer Kraft zum Ausdruck und schafft es damit, zumindest für kurze Zeit das bunte Geflimmer ringsumher vergessen zu machen. Das Gleiche gilt für Marie Megan Hart, die ihr lächerliches Kostüm und das puppenhafte Wackeln mit den Füßen vor allem gegen Ende geradezu meisterlich „wegsingt“. Aris Argiris setzt dagegen Jagos kühl kalkulierende Bosheit, die jede Emotion der anderen Figuren gezielt für seine Rachezwecke ausnutzt. Dieser Jago verfällt keinen Augenblicke in blinde Emotionen, er ist selbst seine eigene und einzige Emotion: die Rache.
Es reicht der Regie aber offensichtlich nicht mit dem der Handlung nie auch nur andeutungsweise nahe kommenden Prinzip der flackernden Computerspiele. Es musste noch eine Ansprache ans Publikum her, für die hier der Gesandte Lodovico aus Venedig zuständig ist. Entgegen seiner Aufgabe, Otellos Rückkehr nach Venedig mitzuteilen bzw. zu verfügen, belehrt er das Publikum über Eurozentrik und andere moralische Verirrungen des Westens. Dazu brennen auf Bildern Luxusautos und der Reichstag in Berlin neben anderen apokalyptischen Bildern und Texten. Offen bleibt, was das mit dem Libretto der Oper oder zumindest mit deren Handlung zu tun hat. Schließlich geht es in der Oper darum, dass ein Untergebener des Feldherrn, Jago, seine gescheiterten Karriereträume in einen Rachefeldzug gegen seine gesamte Umgebung umsetzt. Eine menschlich durchaus nachvollziehbare Geschichte, die aber nur schwer als Vorlage für allumfassende Moralkritik an der – westlichen – Gegenwart zu vermitteln ist.
Das Orchester hat insofern Glück, als es im Graben nichts von der von Bildschirmflackern überladenen Bühne sieht und sich daher voll auf die Musik konzentrieren kann. GMD Daniel Cohen dirigierte mit viel Umsicht, doch letztlich litt auch die musikalische Rezeption nicht unerheblich unter der optischen und auch verbalen Überfrachtung dieser Inszenierung.
Waren schon zur Pause einige „Buhs“ zu vernehmen, so steigerten sich die ablehnenden Äußerungen zum Schluss noch deutlich, wurden jedoch von einer nicht zu vernachlässigenden Gruppe Begeisterter niedergeklatscht. Die Darsteller und das Orchester erhielten zwar ihren verdienten Beifall, aber von „standing ovations“ kann man wirklich nicht reden.
Frank Raudszus
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