Wenn eine ethnische Gruppe – auch „Volk“ genannt – nicht die ersehnte Selbstbestimmung in einem geschlossenen Lebensraum verwirklichen kann, zerstreut sie sich in alle Welt, träumt jedoch stets von der alten Heimat. Gerade uns Deutsche sind – aus traurigem Anlass – die Juden als eine solche Gruppe gegenwärtig. Doch es gibt weit mehr ähnliche Fälle, etwa die Kurden, die seit Jahrzehnten als ethnische Gruppe zwischen der Türkei, dem Irak und dem Iran buchstäblich zerrieben werden, da vor allem die Türkei große Angst vor einer Eigenständigkeit der Kurden hat.
Die junge Melike Kara ist eine kurdische Künstlerin mit kurdischen Wurzeln. Obwohl in Deutschland geboren, hat sie über ihre Eltern und andere Verwandten eine starke Bindung an ihre kurdische Heimat und lässt ihre Herkunft intensiv in ihre künstlerischen Werke einfließen. Die Frankfurter Kunsthalle Schirn hat ihren Arbeiten nun in der „Rotunde“ eine öffentliche Bühne bereitet.
In dem seitlich offenen Erdgeschoss der Rotunde hat Frau Kara verschiedene Skulpturen installiert, die wie hohe Tische oder Schirme wirken. Diese hat sie mit Stoff bezogen, der mit verblassten Fotos aus der Vergangenheit bisher Familie bedruckt ist. Das Verblassen hat sie dabei gezielt durch entsprechende Behandlung der Fotos hergestellt, um das langsame Verblassen der Erinnerungen zu veranschaulichen. Gleichzeitig zwingt sie die Besucher, genau hinzusehen und sich mit den schwer erkennbaren Inhalten auseinanderzusetzen. Man sieht Großfamilien oder einzelnen Frauen mit und ohne Kinder in altertümlichen Trachten, die Frauen mit Kopftüchern, die Männer mit den für diese Zeit und Region typischen Schnauzbärten. Es kommt dabei weniger auf eine Identifizierung der abgebildeten Personen als vielmehr auf das – natürliche – Verschwinden ganzer Generationen und der Erinnerung an sie.
Zusätzlich hat sie neben diese hohen Skulpturen flache Varianten angeordnet, die an flache Wasserstellen mit Seepocken erinnern, in verschiedenen Farben schimmern und der Ausstellung den Titel „Shallow Lakes“ gegeben haben. Man kann sich gut vorstellen, wie wichtig gerade im Sommer in diesen südlichen Regionen auch die kleinsten Wasserstellen waren.
Die alten Fotos tauchen auch auf den Teppichmustern auf, die die Wände im ersten Stock der Rotunde zieren. Dabei hat sie einerseits typische Elemente eines Teppichmusters über die großflächigen Foto-Collagen verteilt und andererseit Schwarz-Weiß-Fotos von ganzen Teppichen integriert. Das ist als Hommage an einen der wichtigesten Wirtschaftszweige des alten „Kurdistan“ zu verstehen.
In anderen Bildern hat Melike Kara abstrakte Farbkombinationen aus Rot und Weiß über die verblassten Fotos aufgetragen, die einerseits andeuten, wie die frischen Farben des Lebens die Erinnerungen überdecken, und die andererseits zumindest unterschwellig suggerieren, das geflossenes Blut viele Leben – und die Erinnerung an sie – ausgelöscht hat.
Diese Ausstellung ist gerade in Zeiten der heftigen Diskussion über Migration und der zunehmenden Diskriminierung von Mitbürgern mit Migrationshintergrund von hoher Bedeutung. Die Kunsthalle Schirn positioniert sich mit dieser Ausstellung bewusst als aktive Befürworterin einer aktiven Integration gerade dieser stets durch politische Agitation einschlägiger Kreise gefährdeten Gruppen. Melike Kara war bei der Eröffnung persönlich zugegen und beantwortete die Fragen der Pressevertreter und anderer interessierter Besucher.
Die Ausstellung ist noch bis zum 12. Mai 2024 geöffnet. Einzelheiten sind der Webseite der Schirn zu entnehmen.
Frank Raudszus
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