Die russische Kultur wird derzeit aus naheliegenden Gründen gerne in politische Sippenhaft genommen. Das mag im Einzelfall personenhalber gerechtfertigt sein, trifft aber oft auch die unbeteiligte Kultur, vor allem, wenn diese in der Vergangenheit liegt. Was hat ein Tschaikowsky mit Putin zu tun?
So hat sich in den Kulturinstitutionen eine eher stille Ehrenrettung angebahnt, an der nun auch das Staatstheater Darmstadt teilnimmt. Das 3. Sinfoniekonzert der Saison präsentierte – sicher nicht zufällig! – russische Musik der Vergangenheit – Tschaikowsky – und der Gegenwart – Firsova. Die junge französische Dirigentin Lucie Leguay übernahm die Leitung dieses Konzertes.
Zur Einleitung erklang jedoch norwegische Musik, und zwar die Streicher-Suite „Aus Holbergs Zeiten“ von Edvard Grieg. Der Rezensent lernte dabei nebenbei, dass es bei Holberg nicht um den Renaissance-Maler, sondern um den norwegischen Barock-Musiker gleichen Namens ging. Man kann nicht alles wissen….
Das für seine Entstehungszeit (1884) ausgesprochen konventionelle Stück sollte in einer Zeit der kulturellen Umbrüche wohl als Erinnerung und Mahnung an die Werte der musikalischen Tradition dienen. Es besteht aus französischen Tänzen und beginnt mit einem lebhaften „Prélude“, das anschließend in eine getragene, mäßig voranschreitende „Sarabande“ übergeht. Nach einem tänzerischen Zwischenspiel endet diese liedhaft und ruhig. Das abschließende „Rigaudon“ kommt spritzig mit typisch barocken Figuren daher. Dabei fallen die äußerst fein ziselierten Streicherpassagen auf, die das Orchester zu den sparsamen aber souveränen ausgesprochen leichtfüßig, ja nahezu schwebend vortrug.
Das Solokonzert lieferte für den Rezensenten ein „Déja vue“. Das Saxophon-Quartett „sonic.art“ hatte nämlich bereits in der Vorwoche im 3. Kammerkonzert des Staatstheaters seine Fähigkeiten zelebriert. Nun trat es als Solo-Ensemble in der deutschen Erstaufführung des Saxophonkonzerts der russischen Komponistin Jelena Firsova auf, die auch selbst an diesem Abend in Darmstadt weilte. Jelena Firsova ist in gewisser Weise selbst kulturelles Opfer des politischen Systems in Russland, wenn auch der alten Sowjetunion, die sie denn auch in den neunziger Jahren verließ. Insofern gehört sie ebenfalls zu den vom Putin-System nicht kompromittierten Künstlern.
Ihr Saxophon-Konzert beginnt mit einem langsamen Solo des Alt-Saxophons, in das dann erst die anderen Saxophone, dann die Kontrabässe und schließlich die Orchester-Bläser einsteigen. Im weiteren Verlauf entwickeln sich weltferne Klangmuster und Motive mit einer fast schwermütigen Grundstimmung. Ein Crescendo gipfelt im Einsatz des Schlagzeugs, um dann wieder zu einem getragenen „Gesang“ der Saxophone abzusinken. Nach einem weiteren Solo des Alt-Saxophons dominieren kräftige Rhythmen das musikalische Geschehen, bis wieder langsame, aber dennoch ausgesprochen intensive Passagen dominieren. Die Harmonien sind zwar durchaus zeitgenössisch, aber wirken nie atonal. Das gilt ebenso für die musikalischen Figuren, die trotz aller Reduzierung stets einen liedhaften Grundtenor beibehalten. Die Suite klingt dann leise und verhalten aus.
Das Ensemble intonierte dieses Konzert mit hoher Musikalität und Gespür für die musikalische Aussage der einzelnen Passagen, die ineinander übergehen und keinen herkömmlichen Satz-Charakter aufweisen. Dabei spielten die unterschiedlichen Klangfarben der vier Saxophone eine zentrale Rolle. Das Orchester unterstützte den Vortrag des Ensembles, das ja selbst schon ein kleines Orchester darstellt, zurückhaltend, aber in verschiedenen Passagen auch akzentuiert.
Das Publikum zeigte sich beeindruckt und spendete derart intensiven Beifall, dass das Quartett noch eine Zugabe in Gestalt eines Stücks von Philip Glass spielte.
Nach der Pause beschloss dann Pjotr Tschaikowskys 6. Sinfonie in h-Moll, auch „Pathétique genannt, das Programm. Der langsam aufsteigende, elegische Beginn des ersten Satzes verbreitete sofort die für diesen Komponisten typische melancholische Grundstimmung. Es folgt das erst absteigende, dann wieder aufsteigende und schließlich absteigende Hauptthema, das Lucie Leguay mit viel Ruhe und dennoch konsequent vom Pult aus gestaltete. Immer wieder schimmerte dabei die Tschaikowsky eigene, nicht zuletzt durch seine Lebensumstände begründete Schwermut durch. Vor allem die Klarinette mit ihrem warmen, emotionalen Ton spielt hier eine zentrale Rolle. Aus dieser Melancholie bricht dann der Kopfsatz doch in Gestalt absteigender Akkordfolgen in Richtung Kampf und Aufruhr aus.
Der erste „Allegro“-Satz – „non troppo“ – erinnert streckenweise an Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“, während der zweite konsequent aus der anfänglichen Melancholie herausführt zu Leben und Freude. Auch hier spielt die Klarinette wieder eine Rolle, und der Satz entwickelt sich förmlich zu einer musikalischen Eruption. Das Finale beginnt noch einmal mit einem langsam absteigenden Sehnsuchtsmotiv und steigert sich weiter in eine tiefe Verinnerlichung hinein, die das Orchester trotz verhaltener Dynamik mit äußerster Intensität intonierte. Hier blühte noch einmal die mentale Verfasstheit der Spätromantik auf, die in Russland und speziell bei Tschaikowsky besonders ausgeprägt war.
Es ist ein hervorzuhebendes Verdienst des Staatstheaters Darmstadt, diese leider selten gespielte Sinfonie mit ihrer ganzen emotionalen Wucht wieder auf die Orchesterbühne gebracht zu haben. Das Orchester des Staatstheaters und die Gastdirigentin Lucie Leguay bedankten sich dafür mit einer höchst präzisen und musikalisch ausdrucksstarken Interpretation.
Das Publikum bedankte sich mit kräftigem, lang anhaltendem Beifall.
Frank Raudszus
No comments yet.