Dieses Buch versteht sich auf den ersten Blick als Sachbuch, doch tatsächlich ist es eher eine Mischung aus diesem Buchtyp sowie einem Erfahrungsbericht und einem Bekenntnis. Cynthia Fleury ist sowohl Philosophin als auch Psychotherapeutin – und natürlich Mensch, welche Selbstverständlichkeit hier aber bewusst noch einmal hervorzuheben ist. Der Gegenstand ihres Buches ist das Ressentiment, und als Philosophin geht sie dieses Thema auch wissenschaftlich an.
In einem wissenschaftlichen Sachbuch tritt der Autor normalerweise hinter seinen Stoff zurück und versucht, eine neutrale Beobachterrolle einzunehmen, um damit soweit wie möglich die Unterstellung der Parteilichkeit auszuschalten, obwohl dieses bei gesellschaftlichen Themen zumindest problematisch ist. Doch Cynthia Fleury äußert sich darüber hinaus auch als Psychotherapeutin, die viele von Ressentiments getriebenen Patienten behandelt hat. Das involviert sie direkt in die entsprechenden Probleme, nicht nur, weil sie unmittelbar mit einem problematischen Menschen konfrontiert ist, sondern weil sie sich dabei auch mit Übertragungen und direkten Angriffen auseinandersetzen muss. Aus diesem Grund sind diese Partien des Buches wesentlich intensiver und meinungsgesättigt, und die unmittelbare Konfrontation setzt natürlich auch bei der Analytikerin Emotionen und subjektive Erkenntnisse frei.
Der menschliche Faktor ergibt sich nicht nur aus dieser therapeutischen Sicht, sondern auch aus Fleurys subjektiver Sicht auf den Menschen und die Welt. Neben den beiden erwähnten Charakteristika zeichnet sie noch eine schriftstellerische Seite aus, die den wissenschaftlichen Aspekt deutlich übersteigt. An vielen Stellen äußert sie sich unmittelbar und emotional, zwar im Rahmen des jeweiligen Themas, aber durchaus kryptisch, um einen emotionalen Sachverhalt darzustellen. Als Beispiel sei der Satz „Nicht der Hass der Lüge, sondern das Lügen über den Hass.“ angeführt, ein Satz ohne Prädikat, das sich auch aus dem vorangegangenen Kontext nicht ergibt. Ein enigmatischer Satz, dessen Sinn man irgendwie zu verstehen glaubt, aber semantisch nicht belegen kann. In dieser Hinsicht ist Cynthia Fleury in gewissem Maße sogar eine Poetin.
Diese drei Seiten ihres Buches – wissenschaftlich, therapeutisch, poetisch – schlagen sich auch inhaltlich nieder. Die Autorin legt dem Begriff des Ressentiment drei gleich klingende, aber unterschiedliche Bedeutung tragende Worte zugrunde: „l´amer“ (das Bittere), „la mère“ (die Mutter) und „la mer“ (das Meer). Das Bittere ist im Ressentiment begraben – oder umgekehrt -, die Mutter steht für die Sehnsucht nach einer gerechten Autorität des von Ressentiments getriebenen Menschen, und das Meer steht für die grenzenlose Offenheit als Ausweg aus dem Ressentiment.
Entsprechend unterteilt die Autorin ihr Buch auch in drei Teile: „Das Bittere“ als Beschreibung des Ressentiments, „Faschismus“ als die Quelle („Die Mutter“) aller Ressentiments sowie „Das Meer“ als die Metapher für die erlösende Offenheit. Der bewusste Verzicht auf den Titel „Die Mutter“ für den Mittelteil mag auf den latenten – und sicher nicht beabsichtigten – Zynismus einer solchen Titelwahl zurückzuführen sein.
Im ersten Teil analysiert Fleury das Ressentiment als eine Mischung aus Neid und Eifersucht. Der vom Ressentiment Betroffene entwickelt beim – für ihn defizitären – Vergleich mit seiner Umwelt ein Gefühl der Ungerechtigkeit aufgrund fehlender Anerkennung, auf die er Anspruch zu haben glaubt. Daraus entsteht die Forderung nach „Gleichheit“ und in der Folge ein „falsches Selbst“ als unterwürfiger Schutz gegen eine überlegene Umwelt. Der Sinn der (eigenen) Existenz wird nicht mehr von einem „Außen“ oder „Oben“ akzeptiert, sondern selbst gesetzt. In diesem Zusammenhang zeigt die Autorin ihren unverwechselbaren Stil, wenn sie das Ressentiment als „Versagen von Seele, Herz und Verstand“ definiert, ohne diese wissenschaftlich schwer zu verortenden Begriffe näher einzugrenzen. Sie spricht hier als Mensch und betroffene Psychotherapeutin.
Für Cynthia Fleury ist der vom Ressentiment getriebene Mensch nicht bereit, sich von diesem zu befreien (oder befreien zu lassen), sondern er genießt es als „Lustfaktor“ und wehrt sich gegen eine „Heilung“. Jeder von uns, der schon einmal ein Ressentiment verspürt hat – und wer hat das nicht? -, kennt dieses spontane Gefühl. Schon im ersten Teil zeigt die Autorin daher den Weg auf, an dessen Beginn der Verzicht auf Wiedergutmachung und die Akzeptanz des Lebensrisikos stehe. Dabei verweist sie u.a. auf Nietzsches „Sklavenmoral“. Dem Ressentiment zu entgehen ist für sie harte mentale Arbeit, denn bereits die Geburt bedeute inhärent Mangel, den es mit Demut zu akzeptieren gelte. Nur die Öffnung zum „Offenen“ – bei ihr mehr als das bloße Wort und gleichbedeutende mit dem „Numinosen“ – könne Heilung bringen. Am Ende dieses Kapitel verweist sie auf die therapeutischen Schwierigkeiten – bis hin zum Scheitern -, Menschen von ihren Ressentiments zu befreien. Oft entwickele sich ein psychischer Zweikampf, in dem die Patienten die Argumente der Therapeutin gegen sie und die Therapie verwendeten, um einer Heilung zu entgehen.
Im zweiten Teil geht sie auf den Faschismus ein, den sie implizit als „Mutter“ des Ressentiments definiert. Er identifiziere sich mit den Schwachen und verleihe ihnen daher das Gefühl, gehört zu werden, verfolge dabei aber keine philanthropischen sondern eigene (Macht-)Zwecke. Der faschistische Führer erkläre sich als „einer von ihnen“, mit dem gleichen Gefühl der Inferiorität und der „ehrlichen“ Aggressivität gegen die Eliten. Das erzeuge das nötige Zusammengehörigkeitsgefühl der Massen und ermögliche die Delegation der Tat an den Führer – „la mère“.
In diesem Zusammenhang definiert Fleury auch den Zweck der Unterhaltungskultur als „Renarzissierung“ der Masse, die durch die stumpfsinnige Industriearbeit Opfer einer „Denarzissierung“ geworden sei. Daraus ergibt sich dann fast zwangsläufig, das auch die Gewalt als – anfangs – dosiertes Mittel der Kompensation und als „Rache“ für die Entfremdung akzeptabel oder gar gefordert sei.
Am Ende dieses Mittelteils steht die Erkenntnis, dass der „nicht-dynamische Teil der Wahrheit tödlich ist“, was bedeutet, dass das tatenlose Verweilen im Ressentiment letztlich jegliche Lebensgrundlage entzieht. Das kann man historisch wie aktuell an vielen Beispielen nachvollziehen.
Im dritten Teil, „Das Offene“ übertitelt und „la mer“ assoziierend. befasst sich Cynthia Fleury intensiv mit der „(De-)Kolonisierung“ des Menschen. Ähnlich wie die historische Kolonisierung des 17. und 18. Jahrhunderts beruht auch die moderne Kolonisierung auf einer Entfremdung, die jetzt aber auf die industrielle Arbeitsprozesse und die Entindividualisierung (Ersetzbarkeit) des Menschen zurückgeht. Es ist also eine erneute „Individuation“ erforderlich, die dem Menschen wieder ein eigenes Ich verleiht.
Ausgiebig zitiert und würdigt die Autorin dabei Fanon und Jankélévic, die sich beide im letzten Jahrhundert intensiv mit den Folgen der Kolonialisierung beschäftigt und daraus geeignete Strategien bis hin zur revolutionären Befreiung entwickelt haben. Bei Cioran wiederum bewundert sie den demütigen Stolz, der die eigene Bedeutungslosigkeit ohne Ressentiment akzeptiert. „La mer“ ist für die Autorin das Sinnbild für das „Offene“, Numinose, die tendenzielle Entgrenzung und die Möglichkeit des Aufbruchs zu neuen Ufern.
In diesem dritten Teil wird die Autorin noch einmal sehr persönlich, bringt ihre eigenen, nicht unbedingt wissenschaftlich objektiv belegten Standpunkte ein, verlässt den distanzierten Beobachterstandpunkt, wenn sie ihn denn je eingenommen hat, zugunsten des persönlichen Engagements. Als Psychotherapeutin ist sie „mittendrin“ und Teil des Problems, und die Therapie ist auch stets ein von Teilnahme geprägter Zweikampf zwischen Therapeutin und Patient. Fleury sieht die „Trennung“ des Menschen von der Mutter („la mère“) einerseits als katastrophalen Ursprung des Ressentiments, andererseits als Chance zur Eigenständigkeit, die es zu erringen gilt. Um im Bild zu bleiben, könnte der Appell gelten: „Junge, geh´ zur See!“.
Cynthia Fleurys Buch über das Ressentiment ist wesentlich mehr als eine wissenschaftlich-empirische Analyse, ja, streckenweise auch weniger als das. Es ist vielmehr ein flammender Appell zur Ursachenbeseitigung, jedoch nicht (nur) kämpferisch-aktivistisch an „die Gesellschaft“, sondern vor allem an das Individuum, das als Teil der Gesellschaft ursächlich sein mag, aber als betroffene Person sowohl Opfer als auch eigenverantwortliches Subjekt ist, das für den Kampf gegen das eigene Ressentiment einzustehen hat.
Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 314 Seiten und kostet 28 Euro.
Frank Raudszus
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