Die Seherin Kassandra sagte den Untergang Trojas voraus und gerann damit quasi zur antiken Ikone für apokalyptische Prophezeiungen. Im 20. Jahrhundert hat George Orwell diese Rolle insofern für die Gegenwart übernommen, als dass er, ähnlich wie Kassandra, weitgehend die Entwicklung richtig eingeschätzt hat. Sein Stück „1984“ aus dem Jahr 1948 (!) hat den totalen Überwachungsstaat zwar – aus heutiger Sicht – etwas verfrüht angesetzt, trifft jedoch die Situation im Jahr 2023 – Russland, China – auf den Punkt genau. Um hier nicht der Einseitigkeit geziehen zu werden, wollen wir darauf hinweisen, das auch die Internet-Firmen heute mit etwas anderen Motiven eine ähnliche Wirkung erzielen.
Das Staatstheater Darmstadt hat diese moderne Dystopie nun in Gestalt des gleichnamigen Stückes von Kristo Sagor auf der Basis einer neuen Übersetzung von Karsten Singelmann auf die Bühne der Kammerspiele gebracht. Die Inszenierung von Jörg Wesemüller (Regie), Gianni Cuccaro (Choreografie) und Sergej Maingardt (Musik) hatte offensichtlich die Nähe zu Kassandra im Blick als auch die an die griechische Tragödie erinnernde Struktur der Ausweglosigkeit. Folglich installierte das Team nicht nur einen an die griechische Tragödie erinnernden Chor, ohne die Vorlage einfach zu kopieren, sondern entwickelte auch eine eigene Musik, um die endzeitliche Bedrohung auch akustisch zum Ausdruck zu bringen.
Auch die Figuren treten nicht als handelnde Menschen mit ihren Stärken und Schwächen auf, sondern als Archetypen eines durch und durch repressiven Systems. Nur die Hauptperson Winston Smith erhält mit Torsten Loeb einen durchgehenden Darsteller zugewiesen, die anderen Mitglieder des Ensembles übernehmen die restlichen Rollen im Wechsel. Karin Klein ist für die beiden „Doppelagenten“ O´Brien und Charrington zuständig, Mona Kloos und Jasmin-Nevin Varul unter anderem für Winstons geliebte Julia, und Sebastian Schulze spielt Syme und Frau Parsons. Dieses Spielen muss man sich jedoch nicht als konventionelle Darstellung realer Menschen vorstellen, sondern eher als Präsentation der jeweiligen dramaturgischen Funktion. Das Stück kennt keine Dialoge im herkömmlichen Theatersinn, sondern nur wechselnde Vorträge des Romantextes entlang der Handlung. Im Grunde genommen verteilt die Regie die Rolle des Erzählers auf die Mitglieder des Ensembles, wobei diese zur Verdeutlichung gewisse Szenen vorführen, gerne auch mit entsprechenden Masken. Um die systematische Zerstörung der Individuen in dem totalitären System zu verdeutlichen, lässt die Regie grundsätzlich keine Individualisierung der Rollen zu. Selbst der homogen von Torsten Loeb repräsentierte Winston entwickelt keine Identität im Sinne eines leidenden oder handelnden Menschen, sondern steht als anfangs stumm rebellierende, dann langsam aber stetig sich dem Druck des Systems ergebenden Figur zwischen den Antipoden. Die Regie ist hier konsequent und inszeniert diesen Roman gar nicht erst als Dialoge zwischen individuellen Menschen sondern als deren Einkesselung und geistig-seelische Vernichtung.
Dabei achtet die Regie jedoch darauf, dem Publikum Ausgangspunkt und Ablauf der Handlung zu verdeutlichen, und Institutionen wie „Gedankenpolizei“, „Bruderschaft“ oder „Ministerium für Wahrheit“ Sichtbarkeit zu verschaffen. Der totalitäre Terror und die Überwachung auch der Gedanken und sogar der Mimik nicht nur der Bevölkerung sondern auch der eigenen Parteigenossen kommen dabei deutlich zum Ausdruck. Waren diese Terrorakte vor siebzig Jahren noch schreckliche Dystopien, so erkennt man sie heute in den Maßnahmen der russischen Polizei und Justiz oder in der öffentlichen Gesichtserkennung und deren Auswertung in China nur zu gut wieder. Was in technologisch weniger fortgeschrittenen Ländern üblich ist, sei hier dahingestellt. Die implizite Überwachung in den westlichen Ländern in Gestalt der „social media“ kommt hier jedoch nicht zur Sprache, einerseits, weil Orwell sie noch nicht kannte, und andererseits, weil sie nicht offensichtlich repressiv sondern großenteils von den „Opfern“ selbst mitgeformt wird. Das Regieteam ist glücklicherweise nicht der Versuchung erlegen, die Tech-Konzerne (GAFA) auch noch in den Reigen repressiv-totalitärer Staatengebilde einzubauen. In diesem Sinne hält das Regieteam zur Werktreue.
Das Bühnenbild besteht aus einem im Stil einer Mondlandschaft bemalten Boden, und an der Wand hängt ein kugeliges Gebilde, das man entfernt sowohl als kalten Planeten oder als verformten Kopf deuten kann. Die mangelnde Eindeutigkeit mag bewusst gewählt sein, um das Publikum ebenso im Ungewissen zu halten, wie es die Institutionen des Orwellschen Systems mit ihren Untertanen tun. Die meiste Zeit der knapp zweistündigen Aufführung liegt die Bühne im Halbdunkel, so noch die intellektuelle und moralische Dunkelheit dieser Dystopie verdeutlichend. Die jeweils im Wechsel vorgetragenen Textstücke werden immer wieder von dem überfallartig(!) auftretenden Chor kommentiert oder verstärkt, der allein durch seine stimmstarke Macht die Unentrinnbarkeit symbolisiert.
Wer die Handlung wirklich im Detail verstehen will, sollte sich zumindest die Zusammenfassung vorher zu Gemüte führen, denn die verdichtete, eher fragmentarische Darstellung von Kernelementen kann nicht die Verästelungen der Handlung und ihrer Protagonisten abbilden. Das ist jedoch auch nicht nötig, denn der Schrecken dieses Systems kommt auch so überdeutlich zum Ausdruck. Außerdem weckt die stringente Darstellung des Schreckens geradezu zwangsläufig Assoziationen an reale Zustände der Gegenwart.
Das Ensemble leistet in dieser Inszenierung Bedeutendes, geht es doch darum, den Spannungsbogen, sprich: den Schrecken, in der Menge der präsentierten Textfragmente aufrecht zu erhalten, ohne ins „Menschelnde“ zu verfallen. Das gelingt dem gesamten Ensemble hervorragend, und die beeindruckende Gesamtwirkung ergibt sich letztlich aus dem Verzicht auf jegliche darstellerische Eitelkeit.
Das Premieren-Publikum zeigte sich beeindruckt und spendete einhellig anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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