Große Musikabende bleiben oft auch wegen vermeintlicher Störungen in Erinnerung, im Extremfall wie bei der Premiere von „Le Sacre du Printemps“ im Jahr 1913. Im ersten Sinfoniekonzert des Staatstheaters war dieser „Èclat“ zwar einige Nummern kleiner, aber unüberhörbar. Vor Beginn des Programms wandte sich GMD Daniel Cohen an das Publikum und wollte etwas über den Wahl-Darmstädter Bruno Maderna und dessen Musik sagen, als eine laute Männerstimme aus den letzten Reihen „Anfangen“ rief. Cohen überging diesen grenzwertigen Einwurf durch den lächelnd vorgebrachten Hinweis, er halte diese kurze Einführung so nützlich wie wichtig, und das Publikum wies den Zwischenrufer durch kräftigen Beifall in seine Grenzen. So konnte der GMD noch einen kurzen Abriss von Leben und Werk des hochbegabten italienischen Dirigenten und Komponisten geben. Man könnte diese kurzen Einführungen durchaus zu einer Gewohnheit werden lassen.
Bruno Madernas „Composizione No. 1“ entstand Ende der vierziger Jahre, als der 1920 geborene Komponist noch in Venedig lebte. Sie trägt trotz moderner Harmonik noch viele tonale Züge, und erstaunlicherweise weckt sie an vielen Stellen Assoziationen an klassische Sinfoniemusik. Gleich der Eröffnungsakkord der Streicher hätte so auch von Beethoven stammen können, ebenso wie der mäßig voranschreitende Charakter der folgenden Takte. Erst langsam setzt sich die Harmonik des 20. Jahrhunderts durch, und die feinen Dissonanzen – oder besser „Reizklänge“ – erzeugen eine geisterhafte, schwebende Grundstimmung. Kurze Akkordketten wecken Erinnerungen an die Klassik, ehe sich wieder die fein ziselierten Motive durchsetzen. Zusammenhängende Themen wird man hier vergeblich suchen, alles ist Klang, gewonnen aus kurzen, mal wechselnden, mal wiederkehrenden Motiven. Der ruhige, fast versonnene Mittelteil wartet mit zarten Violinen-Soli im Verbund mit Xylophon und Cello auf, und als Begleitung der Streicher kommen auch zwei Harfen punktuell zum Einsatz. Nach diesen bewusst knapp gehaltenen Solo-Vorträgen steigert sich die Musik zu einem kräftigen Aufruhr der Instrumentalstimmen, der mit raffiniert versetzten Rhythmen einhergeht, und kulminiert im wahrsten Sinne des Wortes in einem Trommelfeuer. Dann verklingt die Musik leise und ohne Aplomb.
Diese Musik lässt sich als Versuch einer Synthese von klassischer und moderner Musik verstehen, wobei die konventionelle „Melodie“ abgelöst wird durch die gleichberechtigte Präsenz aller Tonwerte im Sinne der Schönbergschen Zwölftonmusik. Sie weckt mit ihrer viel weiter gefassten Harmonik ganz andere Stimmungen und Emotionen, die sich mit Worten kaum fassen lassen, darin ähnlich den letzten Kammermusikwerken Beethovens. Daniel Cohen und das Staatsorchester arbeiteten diese sehr speziellen Wirkungen mit Akribie und Präzision, aber auch mit viel Gespür für den Stimmungsgehalt dieser Musik heraus und brachten mit ihrem Vortrag die Musik Bruno Madernas dem – gedanklich vielleicht schon auf Beethoven fokussierten – Publikum greifbar nahe. Ein gelungenes, wenn auch etwas verspätetes Präsent zu Madernas virtuellem hundertsten Geburtstag vor drei Jahren.
Nach der Pause kam dann das Werk zu Gehör, dessentwegen wohl sehr viele Besucher ins ausverkaufte Haus gekommen waren: Ludwig van Beethovens neunter Sinfonie in d-Moll, die man als Gesamtkunstwerk im Sinne Richard Wagners auffassen kann. Hoch komplexe sinfonische Instrumentalmusik, verbunden mit der Darbietung von Schillers „Ode an die Freude“ durch einen stimmstarken Chor und die Soloparts von Jana Baumeister(Sopran), Solgerd Isalv (Mezzo-Sopran), David Lee (Tenor) und Johannes Seokhoon Moon (Bass).
Da man Beethovens Neunte leider selten auf der Konzertbühne erlebt, lohnt es sich, hier noch einmal den musikalischen Gang nachzuzeichnen. Daniel Cohen begann den ersten Satz verhalten, fast zart, bevor sich das Orchester zu markigen Höhen aufschwang. Der erste Teil dieses fast schon eine eigene Sinfonie darstellenden Satzes ist durch die Wechsel von verhaltenen, spannungsgeladenen Passagen und orchestralen Eruptionen geprägt. Man kann es als die Beschreibung einer latenten Spannung sehen, die sich immer wieder in Ausbrüchen Luft verschafft. Das lässt sich psychologisch, aber auch politisch deuten. Nicht umsonst war Beethoven im Herzen Republikaner, hatte die französische Revolution begrüßt und war von Napoleons Selbstkrönung enttäuscht – siehe den Trauermarsch der „Eroica“. Dass er die Revolution hinter der Restauration witterte und begrüßte, lässt sich durchaus nachvollziehen. Charakteristisch für diesen Satz sind auch die Kaskaden absteigender Tonfolgen, die wiederkehrend von verschiedenen Instrumentenkonstellationen vorgetragen werden. Daniel Cohen setzte bei diesem Satz vor allem auf eine konsequente Umsetzung der Kontraste und eine so leidenschaftliche wie präzise Intonation der eruptiven Passagen.
Den zweiten Satz interpretierte Cohen bewusst in gespannter, ja fast schon getriebener Manier. Hier war kein Augenblick der Ruhe und Entspannung, eine innere Anspannung trieb die Musik vor sich her. Fast schon bedrohlich wirkten die vorwärtsdrängenden, markanten Rhythmen, und man kann dahinter durchaus ein revolutionäres Ethos sehen. Nach einem melodiösen Zwischenspiel endet der Satz fast schon abrupt und lässt den Zuhörer ratlos zurück. Dem Orchester gelang es auf bewundernswerte Seite, diesen vor Spannung brodelnden Hexenkessel musikalisch im genau richtigen Maße aufzuheizen.
Der dritte Satz, eigentlich ein vom Adagio zum Andante übergehendes Konstrukt, erfüllt nie die Erwartungen an diese Satzform, wie wir sie etwa von Mozart oder Beethoven selbst kennen. Cohens Interpretation mit dem Orchester verweigert schlichtweg eine etwa in der Partitur verborgene Lyrik und legt die fiebrige Spannung dieses langsamen Satzes offen. Die Struktur des Satzes ist aufgrund ihrer Mehrstimmigkeit viel zu komplex, als dass eine homophone Innigkeit aufkommen könnte. Immer wieder verschränken sich die Stimmen einzelner Instrumentengruppen miteinander und bauen eine nie nachlassende Spannung auf, die nur vordergründig von einer Oberflächenmelodie, wenn man sie so nennen will, kaschiert wird. Und so führt dieses straff gespannte Andante denn auch konsequenterweise zum Ausbruch im Finalsatz.
Dieser beginnt mit einer orchestralen Eruption, die sich nur langsam legt, bis dann langsam das berühmte Thema – „Freude“ – sich in den Celli und Kontrabässen herauszuschälen beginnt, dann sich auf andere Instrumente und schließlich machtvoll auf das gesamte Orchester ausdehnt. Mit dem Einsetzen des Basses – „Freunde. nicht diese Töne“ – beginnt dann das ausgedehnte Finale von Orchester, Chor und Solostimmen, das ein eigenes, in sich geschlossenes musikalisches Werk bildet und tatsächlich als im wahrsten Sinne des Wortes umfassende bzw. „Millionen umschlingende“ Botschaft zu verstehen ist, die auch heute noch von Bedeutung und als Mahnung zu verstehen ist. Die tonale Macht der instrumentalen und menschlichen Stimmen verfehlte an diesem Abend ihre Wirkung auf das Publikum nicht und füllte den Raum bis in den letzten Winkel. Die Präzision des Chors und des Orchesters bis zum Schlussakkord spielten dabei eine wesentliche Rolle.
So blieb es denn nach dem letzten Akkord auch einige Sekunden still, bis der Beifall einsetzte, allerdings erst verhalten und dann langsam sich steigernd. Offensichtlich waren die Zuhörer derart beeindruckt – ja: benommen -, dass sie einige Momente benötigten, um wieder zu sich zu kommen. Dann aber wollte der Beifall nicht aufhören, und am Schluss erhob sich das Publikum zu stehenden Ovationen an alle Beteiligten. Ein wahrhaft glanzvoller Beginn der neuen Konzertsaison!
Frank Raudszus
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