Die erste Premiere in der neuen Theatersaison übt stets eine gewisse Signalwirkung aus. „Wie lautet das Motto?“ und „Was bewegt uns?“ sind dabei die typischen Fragen. Dass das Staatstheater Darmstadt die Saison mit einem Jugendstück einläutet, ist im Sinne einer zukunftsorientierten Programmplanung durchaus nachzuvollziehen, denn hier spricht man bewusst die nächste Publikumsgeneration an.
Aufgrund des derzeit offenkundigen Mangels an existenziellen und globalen Problemen hat das Staatstheater mit dem Stück „Hasenblues“ von Uta Bierbaum das drängende Thema der nicht binären Geschlechtlichkeit aufgegriffen und von Marie Gottschalk als Einakter in den Kammerspielen inszenieren lassen.
Vier Personen bilden das Tableau dieses Stückes: der von seiner non-binären Geschlechtlichkeit irritierte Schüler Rox (Daniel Noel Fleischmann), seine sexuell bereits weit fortgeschrittene Klassenkameradin Fee (Annbritt Faubel), die mental noch erstsemestrige Bio-Lehrerin Lila (Rebekka Reinholz) und die Schulpsychologin mit vielsilbigem Vierfachnamen (Stefan Schuster).
Das Stück beginnt in der Biologiestunde, und hier zeigt sich vom ersten Augenblick die Strategie der Regie. Es herrscht einerseits die durchaus nachvollziehbare Einsicht vor, dass man die Zielgruppe – junge Menschen zwischen sechzehn und zwanzig Jahren – an ihrem mentalen Standort abholen müsse, andererseits die Ansicht, dass diese Gruppe nur durch grellen Klamauk und kurzatmige Situationskomik bis hin zum Kalauer-Slapstick zu erreichen sei. Von vornherein schließt man offensichtlich aus, dass junge Menschen im Theater mit einer in sich konsistenten Handlung oder gar schlüssigen Argumenten zu erreichen seien, und danach richtet sich die Regie von der ersten bis zur letzten Minute der knapp eineinhalbstündigen Aufführung.
Es fängt mit den Kostümen an, die man nur als grotesk bezeichnen kann. Die Bio-Lehrerin Lila tritt in einem Phantasie-Anzug auf, der eher an eine abgefahrene Revue als an eine Schule erinnert. Die Schülerin Fee trägt eine Art „Baby-Doll“-Kostüm mit weit schwingendem, kurzen Rock, der eher an eine lebende Puppe denken lässt. Und während der bi-sexuelle Rox in einem neutralen(!) Hosenanzug auftritt, erscheint die Psychologin als zentaurischer Zwitter mit entsprechendem Pferdfortsatz. Hier hat man eine feinsinnige Andeutung einer gestörten Identität offensichtlich von vornherein für sinnlos gehalten und gleich auf den Holzhammer gesetzt. Außerdem garantiert der psychopathische(!) Zentaur natürlich von vornherein für kräftige Lacher, was sich bei der Premiere auch als zutreffend erwies.
Letztlich dreht sich die Handlung um den bi- oder non-sexuellen Rox, der sich der deutlichen Avancen von Fee erwehren muss und nur seine Ruhe haben will. Doch das verhindern die mit „D“ und „H“ markierten Toilettentüren, die dem unter plötzlichem Drang leidenden Rox mit den für eine binäre Welt üblichen Argumenten den Zugang verweigern. Er landet dann bei der Psychaterin, die ihm gegen seinen Willen eine „Neo-Vagina“ verschreiben will. Dazu gebärdet sich die Lehrerin Lila vor der Klasse wie ein hyperaktives pubertierendes Mädchen und muss sich erzieherische Ratschläge ihrer Schülerin Fee gefallen lassen. Während die selbst unter schweren Identitätsproblemen leidende Pferdfrau – ihr Traum ist die Metamorphose zu einer Häsin – noch als durchaus satirische Verfremdung des psychiatrischen Berufs nachzuvollziehen ist, lässt sich die Figur der abgedrehten Lehrerin in keiner Weise auf ein typisches Lehrerbild oder gar -klischee zurückführen. Hier beschleicht den Zuschauer das Gefühl, dass es der Regie einfach Spaß bereitet hat, diese Figur – oder den Berufsstand? – bis zum endgültigen KO durch den Kakao zu ziehen.
Dass am Ende so etwas wie eine „Moral von der Geschicht“ zustande kommt, zeichnet sich von vornherein ab, doch beschränkt sich diese auf die mehrfach geäußerte Beteuerung, dass Rox „ganz normal“ sei, sowie auf die demonstrativ beiläufige Mahnung, man solle jeden nach seiner (sexuellen) Facon selig werden lassen. Dieser pädagogisch gemeinte Allgemeinplatz wirkt jedoch in seiner treuherzigen Plattheit eher peinlich. Offensichtlich unterschätzte man auch hier wieder die Zielgruppe der jungen Leute. Ehe diese eventuelle Andeutungen nicht verstehen, sagt man es lieber deutlich.
So bleibt von den knapp eineinhalb Stunden der Eindruck eines mit deftigen sexuellen Vokabeln gefütterten Klamauks, der das Publikum auf dem Status von Dreizehnjährigen abholen soll. Leider ist das am Premierenabend auch bis zu einem gewissen Grad gelungen.
Das Ensemble versucht, aus dieser fragwürdigen Text- und Regievorgabe das Beste zu machen, und bietet alle mimischen und gestischen Mittel auf. Rebekka Reinholz bringt die mehr als exaltierte Lehrerin als groteske Karikatur auf die Bühne und erntet allein durch ihre Mimik und Körpersprache viele verdiente Lacher. Annbritt Faubel bringt die deftigsten Porno-Texte mit der Kaltschnäuzigkeit einer abgebrühten Halbwüchsigen über die Lippen, und Stefan Schuster trägt tapfer das Los der – überraschend und innovativ! – von einem Mann gespielten Frauenrolle. Noch nie haben wir auf der Bühne oder im Film einen Mann in Kostüm und Pumps und mit kunstvoll onduliertem Haar gesehen. Doch Schuster füllt auch diese Rolle gut aus, vor allem unter dem Gesichtspunkt der durch die Pferdekruppe eingeschränkten Bewegungsfähigkeit. Daniel Noel Fleischmann hat noch die einfachste Rolle, weil er nur einen jungen Menschen mit geschlechtlichen Identitätsgefühlen spielt und nie in groteske Extreme fallen muss.
Auch wenn die Aussage des Stücks, abgesehen von den bereits genannten pädagogischen Aspekten, bis zum Schluss dubios bleibt, ernteten Ensemble und Regie zum Ende kräftigen Beifall. Na denn.
Frank Raudszus
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