Es ist schwierig, über Kae West als Autor:in der 2023 erschienenen Gedichtsammlung „Divisible by Itself and One“ zu schreiben. Kae Tempest wurde 1985 als Kate Esther Calvert in London geboren und wurde offiziell als weiblich definiert. 2019 outete „they“ sich öffentlich als queer und non-binär. Sie nahm gleichzeitig den Namen Kae Tempest an. Als Konsequenz twitterte „they“ 2020, dass „they“ statt der Personalpronomen „she/he“ nur noch die geschlechtsneutrale Pluralform „they“ benutzen werde.
Sowohl der Suhrkamp-Verlag als auch die Übersetzerin Rike Scheffler bemühen sich, diesem Wunsch zu entsprechen.
In der biographischen Skizze bezeichnet der Verlag Kae Tempest als „Schriftsteller:in, Musiker:in und Performer:in. Die Übersetzerin bildet für „they“ das für mich irritierende Kunstwort „dey“. Aus Respekt vor dem Wunsch der Autor:in wird diese Schreibweise auch hier übernommen. Ob diese Form des Genderns jedoch zur Akzeptanz des Non-Binären beiträgt, bleibt fraglich.
Schon der Titel der Gedichtsammlung verweist auf die Sonderrolle von non-binären Personen: Nur „teilbar durch sich selbst und eins“ sind die Primzahlen, die damit in der unübersehbaren Menge von Zahlen eine Sonderrolle einnehmen, im einfachen Rechenprozess sind sie schwierig zu handhaben, und man muss sie verstehen.
Darum geht es Kae Tempest in den Gedichten. Als Leserinnen und Leser sollen wir uns einlassen auf die Gefühle, Nöte, Ängste, Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen von Menschen, die anders sind oder sich anders fühlen als die Mehrheit der Menschen. Der non-binäre Mensch leidet unter seiner außergewöhnlichen Rolle als eine Person, die sich in dem ihr zugeordneten Geschlecht nicht wohl fühlt, aber auch nicht eindeutig dem anderen Geschlecht zugeordnet werden möchte. Die Gedichte sind Ausdruck der Suche nach einer Identität, die nichts festlegt, dennoch aber Liebe und Zugehörigkeit möglich macht.
Kae Tempest stellt den eigenen Gedichten den Auszug aus einem Gedicht von Ted Hughes (britischer Dichter und Schriftsteller, 1930 – 1998) voran, in dem es um die Auflösung der Knoten in der eigenen Seele geht, die erst nach zögerlichem Beginn gelingt, dann aber zu großer Freude und Befreiung führt: „…it is beginning, just fingerings /At my knots, /Then will come rippings, and drenchnings of world light / And my naked joy / Will be lifted out with shouts of joy – / And if that is the end of me / Let it be the end of me”.
Diese Verszeilen geben das Leitmotiv für Kae Tempests Lyrik. Die Suche nach dem eigenen Ich, die Verwirrung durch die vielen möglichen Ichs, die Sehnsucht, wie alle zu sein, und gleichzeitig doch ganz anders sein zu wollen, und das Verhältnis zum eigenen Körper, das sind die wiederkehrenden Themen.
Dabei experimentiert Kae Tempest mit der Form. Die Rhythmen sind unregelmäßig, einige Texte sind eher rhythmische Prosa wie „Be careful that you don’t become a parody of yourself“. Lyrisch ist dieser Text in seiner Verdichtung, Sätze werden angedeutet, nicht ausgeführt; Bilder drücken ein Lebensgefühl aus, das schwankt zwischen Anpassung und sich Gehen-Lassen, zwischen Verzweiflung und Protest; Interpunktion gibt es nicht. Ich muss als Leserin genau hinsehen, um die Verknüpfungen für mich herzustellen. Es ist ein Aufschrei, sich nicht zu verlieren in der Arbeit und danach zu nichts mehr fähig zu sein, als auf dem Sofa abzuhängen, nicht einfach weiterzumachen: „state we’re in what can we expect but hand-wringing / on the one side and fist-throwing on the other work / till there’s nothing left of you but slouch on the sofa …“.
Oder das Gedicht „Sequence“: Formal als Lyrik erkennbar durch den deutlichen Zeilensprung, der zum genauen Lesen herausfordert. Es gibt keinen Reim, keinen einheitlichen Rhythmus. Elliptische Sätze wechseln mit ausgeführten Sätzen ab. Das Gedicht zeigt eine junge Frau, die nachts aus einem Auto aussteigt, hinter ihr bleiben lachende Gesichter im Auto. Sie hat plötzlich das Gefühl, nur Teil einer Abfolge von Ereignissen zu sein, an die sich jede und jeder unterschiedlich erinnern wird. Sie spürt selbst nicht, dass sie verschiedene Ichs in sich hat, die immer unterschiedlich interpretiert werden. Dem scheint eine tiefe Verunsicherung zugrunde zu liegen, denn sie weiß offenbar nicht, wer sie wirklich ist: „There, on the doorsteps, she has the flooding / Sense that she is nothing but a sequence / Of events remembered differently by / Everyone involved…“.
Das eigene Leben wie eine Theateraufführung zu empfinden ist Thema des Gedichts „The actor dreams in character“. In vierzehn Zweizeilern drückt hier ein Ich seine Not aus, so sein zu wollen, wie es als „normal“ gilt mit „House and a garden; toolbox, lawnmower, / Job that I leave at 5.00 every evening / Mates in the pub on a Friday / fixing the motor outside at the weekend“, und gleichzeitig das gerade nicht zu wollen. Das Ich wünscht sich, mit der ganzen „Vorstellung“ aufhören zu können. Stattdessen sehnt es sich nach Nähe zu einem Menschen in einer Beziehung „Where nothing is forbidden and nothing’s required / and tell me I’ll never be like them“. Die Not dieses Ich liegt in der Ambivalenz von Anders-Sein-Wollen und dennoch dazu zu gehören.
Noch stärker wird dieser Wunsch in „Body“. Hier geht es um das Fremdheitsgefühl eines Mädchens oder einer jungen Frau – Tempest benutzt hier wirklich „she“! – in einem falschen Körper, den sie hasst und durch andere Kleidung zu kaschieren versucht. Das provoziert die anderen Menschen, die sich von ihr abwenden.
Das gerade mag sie, auch wenn es weh tut. Sie träumt davon, aufgehoben zu sein in einer Community, wo sie tanzen kann, „till the outside is inside her / At last, no one else intervening. Her body is just sound. Without meaning“. Dieses Gedicht ist formal konventioneller mit Reim und nahezu regelmäßigem Rhythmus, was die innere Unruhe des Inhalts etwas ausgleicht.
In anderen Gedichten experimentiert Kae Tempest mit konkreter Poesie. So formt „Wind in the tall trees“ mit den Worten einen Baum oder „Flight“ die Flügel eines Vogels oder Flugzeugs.
Tempest geht insgesamt mit den verschiedenen Registern lyrischen Sprechens souverän um, wechselt die Form je nach der inhaltlichen Aussage.
Alle Gedichte sind immer parallel zum englischen Text in der deutschen Übersetzung von Rike Scheffler abgedruckt. Sicher ist die Übersetzung lyrischer Text besonders schwierig, aber an vielen Stellen hätte ich mir eine sensiblere Übersetzung gewünscht, die den Originaltext nicht entstellt. An manchen Stellen ist Rike Schefflers Übersetzung auch für die erfahrene Lyrik-Leserin unverständlich.
Insgesamt ist es eine Herausforderung, sich auf Kae Tempest einzulassen. So viel Leiden und Verzweiflung, das ist an einem Stück schwer zu ertragen. Darüber hinaus ist zu fragen, ob das ständige Kreisen um die eigene Identität und das Leiden an sich selbst angesichts der großen globalen Probleme noch angemessen ist. Ich vermisse bei Kae Tempest den Zusammenhang der individuellen Situation und Befindlichkeit mit Fragen, die über das eigene Ich hinausweisen.
Dennoch: Wer mehr wissen will über die innere Zerrissenheit, die mit einem non-binären Bewusstsein einhergeht, der sollte sich auf Kae Tempest einlassen. Einfach ist das nicht. Nicht umsonst hat sich Kae wohl den Namen „Tempest“ gegeben, um ihren rebellischen Sturm gegen den Druck des sogenannten Normalen auszudrücken.
Das Buch ist im Suhrkamp Verlag (edition suhrkamp) in der englischen Originalversion und gleichzeitig in der Übersetzung von Rike Scheffler erschienen. Es hat 126 Seiten und kostet 15 Euro.
Elke Trost
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