Eigentlich wissen wir nach den ersten Seiten von „Wer hat Bambi getötet?“ alles über diesen Roman der finnlandschwedischen Autorin Monika Fagerholm. Alle Hautfiguren werden erwähnt, das Hauptereignis wird genannt, der zeitliche und räumliche Rahmen der Ereignisse gesetzt. Und doch wissen wir noch gar nichts oder nur so viel:
Es ist das Jahr 2014. Wir treffen Gusten Grippe, 26, erfolgreicher Immobilienmakler, beim Joggen in einem alten Villenviertel von Helsinki, in dem er aufgewachsen ist. Dieser Ort weckt Erinnerungen an seine Kindheits- und Jugendtage, als er hier mit seinem Freund Nathan eng verbunden war.
Nathan ist der Sohn von Annelise, der besten Freundin seiner Mutter Angela. Annelise ist eine bekannte Frau mit einer sehr steilen Karriere in der Wirtschaft. Angela ist auf dem Wege zu einer Karriere als Opernsängerin. Alles vom Feinsten also. Dann gibt es noch Gustens Ex-Freundin Emmy, die ihn vor drei Monaten verlassen hat. Seitdem tröstet er sich mit deren Freundin Saga-Lill in einer rein sexuellen „On-off-Beziehung“. Und es gibt noch den Jugendfreund Cosmo, der eine große Karriere als Filmproduzent gemacht hat, sowie das Mädchen Sascha, das im nahegelegenen Heim für Mädchen aufgewachsen ist
Alle diese Namen tauchen beim Joggen aus der Vergangenheit auf, aber nur, um von Gusten gleich wieder aus dem Kopf gestrichen zu werden. Er will mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben, denn sie ist belastet durch ein Ereignis, das sechs Jahre zurückliegt: die Gruppenvergewaltigung von Sascha, an der er selbst beteiligt war
Das sind jedoch nur die äußeren Fakten. Was dieses Ereignis bei den Beteiligten und ihren Familien angerichtet hat und wie es ihre weiteren Beziehungen prägt, erfahren wir in den folgenden Kapiteln. Immer wieder wird Gusten dasselbe Ereignis aus verschiedenen Perspektiven sehen, sein damaliges Verhalten in Frage stellen, den Umgang der Öffentlichkeit mit dem Vergehen der Jungen aus „gutem Hause“ hinterfragen, sein damaliges Bedürfnis nach gerechter Strafe und sein Handeln reflektieren.
Aus Gustens Perspektive sehen wir die Kinder und dann sechzehnjährigen Jugendlichen, die in einem wohlhabenden und intellektuellen Milieu doch weitgehend sich selbst überlassen sind, deren materielle Bedürfnisse übererfüllt werden, denen jedoch Zuwendung und ein geordneter Rahmen fehlen. Allen gemeinsam ist die Sehnsucht nach Liebe und Beständigkeit, Nathan ist derjenige, der gelernt hat, Macht auszuüben und über die anderen zu herrschen. Er wird der Initiator des Vergewaltigung sein.
Ganz anders sind die Sehnsüchte der Mädchen, von denen wir aus deren jeweiliger Perspektive erfahren. Emmy und Sagga-Lill stammen aus einem kleinen Dorf, aus der Welt der Schuppen und Heuhaufen. Emmy kommt vom Bauernhof, Sagga-Lill aus einer zerbrochenen akademischen Mittelstandsfamilie. Auch sie haben ein traumatisches Dorferlebnis hinter sich. Zusammen machen sie sich unmittelbar nach dem Abitur auf in die Stadt, um dort endlich das Leben kennenzulernen.
Monika Fagerholm gelingt es meisterhaft, die Stimmungen ihrer Figuren einzufangen, immer mit der erzählerischen Distanz, die aus der personalen Perspektive in der dritten Person diagnostisch auf die Entwicklung und die Irrungen und Wirrungen der Lebenssituationen der jungen Leute und ihrer Eltern blickt.
Immer wieder dreht sich das Erzählen um die Aufarbeitung des Geschehens um die Vergewaltigung, ohne dass es für uns als Leserinnen ermüdend wird. Im Gegenteil, denn dabei entlarvt Fagerholm die Verlogenheit der Erwachsenenwelt, die das Ereignis bagatellisieren und vertuschen will, sowie die Rolle der Medien, die das Ereignis aufbauschen, um es ebenso schnell wieder ad acta zu legen.
Auch die ursprünglichen Lebensentwürfe der mittlerweile jungen Frauen, die beide mit Gusten verbunden sind, erweisen sich als Illusionen, die Wirklichkeit holt sie ein. Alles erscheint als zerbrechlich, auch Freundschaft und Liebe sind keine Grundfesten in ihrem Leben. Vielmehr müssen die jungen Frauen lernen, sich neu zu definieren und ihren eigenen Weg finden. Ob ihnen das gelingen wird, bleibt offen.
Gustens Zukunft ist ebenfalls offen. Auch wenn er beruflich erfolgreich ist, bleibt die Frage, ob er eine stabile Beziehung wird aufbauen können. Der Verlust der seelischen Unschuld durch das „Ereignis“ wird für ihn prägend.
Was die Jugendlichen in den Ehen ihrer Eltern erlebt haben, Betrug und Trennung, Selbstverliebtheit und mangelnde Empathie, Leben im äußeren Schein, tragen sie auch in sich.
Der Roman lässt die Frage offen, ob diese Generation zu einem wahrhaftigeren Leben kommen kann.
Dieser Ausblick wird jedoch durch das Filmprojekt des Freundes Cosmo in Zweifel gezogen: Die Verfilmung des Vergehens der Jugendlichen in dem Film „Wer hat Bambi getötet?“ verheißt nichts Gutes. Der Verlust der kindlichen Unschuld – Bambi ist Symbol dafür – wird durch Cosmo kommerzialisiert. Das ist schwer erträglich.
Wie in einem Kriminalroman kreist Monika Fagerholm um dieses Ereignis, erst sehr spät erfahren wir, wie es zu der Tat kommt.
Sprachlich werden wir in die Innenwelt der Figuren gezogen. Assoziative, elliptische Sätze, die oft unvollständig bleiben, sind wie Gedankenfetzen, die aufkommen und schnell wieder verdrängt werden sollen. Die ständige Parallelisierung der Zeitebenen rückt uns als Leserinnen ganz nah an die Gedankenwelt der Jugendlichen heran.
Es geht der Autorin um die Entlarvung des gesellschaftlichen Umfelds, um die Fragwürdigkeit von Karrierestreben und äußerem Erfolg. Vergessen diese Erwachsenen, was sie bei ihren Kindern anrichten? Welche falschen Hoffnungen sie wecken, die sie selbst nicht wieder einfangen können. Auch sprachlich charakterisiert sie diese Erwachsenen, die in einer pseudo-coolen Sprache sich über andere erheben und ihre eigene innere Leere zu übertünchen versuchen. Wie sollen die Jungen von ihnen authentisches Leben lernen!
Dennoch trügt der Schein die Jugendlichen nicht. Sie tragen ihr Vergehen schon in sich, als die Eltern – noch unwissend – ihre Show durchziehen. „Mama, hör auf“ klingt wie der verzweifelte Ruf nach Ehrlichkeit.
Monika Fagerholm ist ein eindringlicher Roman gelungen, der mich als Leserin nicht so schnell losgelassen hat. Unbedingt empfehlenswert.
Der Roman ist in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Antje Rávik-Strubel im Residenz Verlag erschienen, hat 256 Seiten und kostet 25 Euro.
Elke Trost
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