Frank Wedekind hat in seiner fünfaktigen Tragödie „Lulu“, entstanden aus den Romanen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“, die heuchlerische Doppelmoral des wilhelminischen Deutschlands aufs Korn genommen. Die katholische Kirche hatte über zwei Jahrtausende die Sexualität tabuisiert und nicht zuletzt deswegen die Frauen aus dem liturgischen Dienst entfernt. Die Marienverehrung ist sozusagen die Kompensation in Form einer Entsexualisierung. Da die Männer des patriarchalischen Systems unter dem Konflikt zwischen dieser Tabuisierung und dem eigenen Trieb litten, projizierten sie das Tabu sozusagen in die Frau hinein und denunzierten diese als sexuelle Verführerin der eigentlich tugendhaften Männer. Man kennt dieses System heute aus anderen, aber in dieser Hinsicht ähnlichen Kulturkreisen.
Lulu ist eine attraktive junge Frau, die von jungen und alten Männern begehrt und „benutzt“, aber eben ob dieser „Benutzung“ verachtet wird. Lulu steigt in höchste Kreise auf, bringt mehrere Männer ins Grab, landet wegen Gattenmordes im Gefängnis und nach Befreiung und Flucht schließlich in einem Londoner Bordell, wo sie der bekannt Serienmörder Jack the Ripper ermordet.
Der Komponist Alban Berg hatte sich in den 1930er Jahren dieses Stoffs angenommen und bereits zwei Akte durchkomponiert und den dritten weitgehend skizziert, bevor er 1935 überraschend starb. Nach Jahren mit wenigen Aufführungen dieses Fragments machte sich schließlich der österreichische Komponist Friedrich Cerha daran, die Oper fertigzustellen. Diese Version ist die Grundlage der Inszenierung am Staatstheater Darmstadt durch die Regisseurin Eva-Maria Höckmayr.
Die Oper ist wie eine Bachscher „Krebsgang“ strukturiert: die Handlung – hier Lulus sozialer Auf- und Abstieg – steigt bis zu einem Höhepunkt etwa in der Mitte des Stückes an, um dann die gleichen Stationen in einer Art Rückwärtsgang zu durchlaufen. In der Musik – etwa bei Johann Sebastian Bach – schlägt sich das in einer direkten Umkehr des Themas nieder, das dann von hinten nach vorne intoniert wird. In dieser Oper baut auch Alban Berg am Umkehrpunkt einen solchen Krebsgang ein, der allerdings nur schwer zu entdecken ist, da in der Zwölftonmusik eingängige liedhafte Themen nicht auftreten.
Die aufsteigende Flanke dieses Krebsgangs ist mit den Personen des Dr. Schön, des Medizinalrats und des Malers gepflastert. Dr. Schön weist gewisse – sicherlich nicht unbewusste – Ähnlichkeiten mit Sigmund Freud auf. Er ist Lulus Mentor und Liebhaber, sieht sie aber nicht als standesgemäße Ehefrau. Als ihr Ehemann, der Medizinalrat Dr. Goll, feststellt, dass der Lulu portraitierende Maler seine malerischen Befugnisse mehr als akzeptabel und wohl auch mit Lulus Zustimmung ausweitet, erliegt er einem Herzinfarkt. Der Maler selbst kommt durch Dr. Schön zu Lulus Hand, Geld und Ruhm. Als er mitbekommt, dass sich Dr. Schön wegen einer standesgemäßen Ehe von Lulu trennen will, nimmt er sich aus Enttäuschung über deren Untreue das Leben. Lulu vereitelt mit allen weiblichen Tricks Dr. Schöns Verlobung und zwingt ihn, sie zu heiraten. Als es zu einem schweren Eifersuchtsstreit wegen ihrer Bewunderer kommt, erschießt Lulu ihn mit dem Revolver, mit dem sie sich selbst umbringen sollte.
Jetzt beginnt die absteigende Flanke des Geschehens oder der Rückwärtsgang des Krebses. Dr. Schöns ebenfalls Lulu verfallener Sohn Alwa, die lesbische Gräfin Geschwitz, ein namentlich nicht näher benannter „Athlet“ und ein Gymnasiast sind an der Befreiung irgendwie beteiligt und versuchen alle, bei Lulu anzudocken. In einem gnadenlosen Intrigantenkarussell stellen sie sich gegenseitig Fallen und nehmen einander dadurch sukzessive aus dem Spiel. Dabei geht es oft um Geld, das gerade während und nach der Weltwirtschaftskrise ein großes Thema war. Jeder will an Lulus „Jungfrau“-Aktien heran, die einen phänomenalen Wertanstieg erfahren haben, bis sie eines Tages wertlos sind. So landet Lulu schließlich in dem Londoner Bordell, wo sie der zwielichtige Schigolch, angeblich Lulus früherer Verwandter, vielleicht Vater, vermögenden Freiern anbietet. Dort trifft sie dann auf Jack the Ripper.
Für eine Inszenierung dieser Frauenbiographie bietet sich der Ansatz der „femme fatale“ geradezu an. Die Hinweise auf die manipulative Ausnutzung der eigenen Wirkung auf das männliche Geschlecht legen eine solche Deutung nahe. Doch Eva-Maria Höckmayr hat diese Interpretation letztlich als patriarchalische Selbstentlastung entlarvt. Lulu mag zwar noch so attraktiv sein, doch das rechtfertigt für die Regisseurin keinerlei Vorwurf der Manipulation. Lulu ist für sie in erster Linie ein Mensch, der selbstbestimmt leben will, oder, wie Lulu es ausdrückt, die so ist wie sie ist. Untreue im bürgerlichen Sinne ist somit keine unverzeihliche Charakterschwäche, sondern erst einmal ein Lebensmuster. Nicht Lulu wirbt händeringend um die Männer und möchte deren einzige Lebensgefährtin sein, sondern die Männer fordern dies von ihr und bestehen auf ihrer Einzigartigkeit – die sie natürlich auch bei anderen einfordern zu können meinen. Da Lulu nicht bereit ist, sich den patriarchalischen Forderungen der Männer zu beugen, kommt es zwangsläufig zu Konflikten, die dann auch in die geschilderten Todesfälle münden können.
Der Abstieg verläuft nach einem ähnlichen Muster, jetzt aber verlangen die Männer von ihr nicht mehr den sexuellen Tribut, sondern ihren vermeintlichen Reichtum. Aus angeblich endlos liebenden Verehrern werden kaltschnäuzige Geldeintreiber, die ihr sogar mit Erpressung drohen. Aus dem Kreis der angeblich liebenden Verehrer leistet allein die Gräfin Geschwitz – eben eine Frau – Lulu als Opfer Gesellschaft, wenn auch nur im Geiste. Lulus Ermordung durch Jack the Ripper ist dann eher als ironische Pointe dahingehend zu verstehen, dass Lulu den Täter zum ersten Mal als Person und Mensch nicht interessiert.
Das Bühnenbild von Paul Zoller zeichnet sich durch puristische Einfachheit aus. Abgesehen von absenkbaren Vorhängen, die den Seiten und der Bühnenrückwand verschiedenes Aussehen verleihen, besteht das Bühnenbild im Wesentlichen aus einem Sockel, auf dem fast durchgängig Lulu steht oder liegt. Der metaphorische Charakter dieses Sockels liegt auf der Hand: die Männer stellen die Frau(en) erst auf einen Sockel, umschwirren diesen und stoßen die Frau dann bei Bedarf wieder hinunter. Doch die Regie hütet sich, diese Sockel-Metapher bis zur Ausbeutung auszudeuten, und lässt es mit ihrer deutlichen Darstellung genug sein. Die Beleuchtung tut ein Übriges, dem Sockel bisweilen den Charakter des vermeintlichen Heiligtums zu verleihen.
Die Inszenierung dieser Oper steht noch vor dem weiteren Problem, dass es eigentlich keine richtige Handlung im Sinne eines Konflikts und dessen Lösung gibt. Stattdessen wird derselbe Konflikt um Begierde und Erfüllung bis zum Schluss ständig wiederholt, wobei sich nur die Rollen von Täter und Opfer ändern. Doch auch diese Täter- oder Opferrollen werden nicht nach Kategorien der Schuld geordnet und vorgeführt, sondern als geradezu schicksalhafte Zuschreibungen aufgrund einer gesellschaftlichen Situation, eben der unterschiedlichen Rollenverständnisse von Männern und Frauen. Dass in dieser Oper die Frau von vornherein das Opfer ist, steht auf der Meta-Ebene von Anfang an fest, nur die handelnden Personen – die Männer – sehen das anders. Die Oper schildert also dieselbe Situation in verschiedenen, jeweils leicht abgewandelten Varianten.
In dieser Hinsicht passt auch die musikalische Struktur von Alban Bergs Zwölfton-Musik. Diese kennt keine Tonarten geschweige denn Dur und Moll mehr, die es gestatten, emotionale Situationen musikalisch zu beschreiben. Stattdessen gibt es nur noch zwölf Halbtonschritte, die beliebig kombiniert werden können. Eine Regel lautet, dass in einer „Zwölfton-Reihe“ jeder Halbton genau einmal auftritt. Und so ordnet Berg jeder Figur eine bestimmte Reihe zu, die diese bei allen Auftritten wie ein Wagnersches „Leitmotiv“ in verschiedener instrumentaler Ausstattung begleitet. Die Musik aus dem Orchestergraben spielt also keine liedhaften Themen und deren Abwandlungen mehr, sondern Kombinationen der verschiedenen Zwölfton-Reihen, wobei der Begriff der Dissonanz nicht mehr existiert, da es keine harmonischen Begriffe wie Dreiklang, Terz oder Septime mehr gibt. Dadurch gewinnt die Musik einen schwebenden Charakter, der keine harmonische Spannungserzeugung und -auflösung mehr kennt. Diese dynamischen Elementen müssen aus der Intonation und der Intensität des Vortrags kommen. Das trifft natürlich auch für die Gesangsleistungen zu, bei denen es jetzt nicht mehr um Wiederholungen und Refrains wie in Arien geht. Hier wird der Text des Librettos wie bei einem Rezitativ vorgetragen, aber in Form von Zwölfton-Reihen. Die fehlende Liedhaftigkeit mit eingängigen Mustern macht es dem Gesangspersonal nicht gerade leicht, müssen die vorgegebenen Notenreihen doch einzig und allein aus dem Gedächtnis und ohne jegliche „natürliche“ gesangliche Neigung gesungen werden.
Die Sänger und Sängerinnen zeigen in dieser Inszenierung durchweg hervorragende Leistungen, allen voran Juliana Zara als Lulu. Sie überzeugt vor allem durch ihre stimmliche Präsenz und die mühelose Abdeckung aller Tonlagen. Darüber hinaus setzt sie auch die Regievorstellungen einer emanzipierten und nur sich selbst gegenüber verantwortlichen Frau konsequent und glaubwürdig um. Oliver Zwarg steht ihr als Dr. Schön – und Jack the Ripper – in nichts nach. Auch er beherrscht über lange Strecken die Bühne und bildet zusammen mit Julia Zara ein ausgesprochen starkes Paar. Darüber sollte man jedoch das übrige Personal nicht vergessen, etwa Georg Festls Athlet, der nicht nur mit stimmlichen sondern auch mit akrobatischen Leistungen glänzt, oder Katrin Gerstenberger als anfangs stolze und später schwer gedemütigte Gräfin Geschwitz. Uwe Stickert als Alwa und Peter Lodahl als Maler und Prinz runden das Gesangsensembe ohne Abstriche ab, Sten Byriel spielt einen Schigolch wie aus der „Dreigroschenoper“ entsprungen, und Lena Sutor-Wernich gibt einen aufmüpfigen Gymnasiasten. Und auch die anderen Nebenrollen sind alle mit bekannten Namen aus dem Opernensemble des Staatstheaters bestens besetzt.
Das Orchester unter der Leitung von Daniel Cohen schafft es, die schwer zu vermittelnde Zwölftonmusik für das Publikum hörbar zu intonieren, so dass man sich im Laufe dieses vierstündigen Abends sogar an diese Art der Musik gewöhnt.
Kräftiger Beifall für das gesamte Ensemble und das Orchester.
Frank Raudszus
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