Der Roman „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ von Giulia Caminito erschien bereits 2021 auf Italienisch und gewann in Italien den „Premio Campiello“. In Italien stand der Roman auf der Bestsellerliste, in Deutschland ist er jedoch weniger bekannt. Das ist schade, denn der Roman schildert auf besondere Weise die Situation von Kindern und Jugendlichen aus prekären Lebensverhältnissen in Italien. Diese Coming-of-Age Geschichte zeigt die Träume, Sehnsüchte und Zukunftshoffnungen der jungen Leute, aber auch deren oft zermürbenden, vergeblichen Kampf um sozialen Aufstieg, der sich in Zerstörungswut und Gewalttätigkeit gegenüber allen, denen es besser zu gehen scheint, entladen kann.
Die Ich-Erzählerin Gaia, deren Namen wir erst gegen Ende des Romans erfahren, blickt zurück auf ihre Kindheit und ihre Jugendjahre.
Der Roman beginnt medias in res mit dem Auftritt von Gaias Mutter Antonia Colomba in einem Anwaltsbüro, in dem sie sich aufgedonnert als Anwältin ausgibt, um Zutritt zur Anwältin zu bekommen. Es ist ihr Kampf mit den römischen Sozial- und Wohnungsbehörden, die ihr seit Jahren eine menschenwürdige Wohnung versprechen, aber nichts tun. Antonias Auftritt scheitert, aber sie gibt nicht auf. Es gelingt ihr mit ihrer ganzen Kraft, die In-Obhutnahme einer Sozialwohnung im Norden Roms zu ergattern, um die dann wiederum mit einer Wohnung in der preiswerteren Gegend am Lago die Bracciano zu tauschen. Solcher Wohnungstausch auf Zeit ist offenbar in Italien nicht selten. Das ist zwar ein illegaler Zustand, aber es ermöglicht einer Familie, die teure Wohnung in Rom unterzuvermieten.
Wie ihre Mutter ist Gaia eine Kämpferin. Beide haben als Italienerinnen rote Haare, sehr helle Haut mit Sommersprossen, beide fallen auf durch ihre Kraft, ihre Wut und ihre Konsequenz.
Die Ich-Erzählerin führt uns zunächst in ihre Kinderjahre, die die Familie in Rom in einem Ein-Zimmer-Souterrain verbringt. Der Vater ist nach einem Arbeitsunfall querschnittsgelähmt, als Schwarzarbeiter hat er keinerlei Anspruch auf Unterstützung. Antonia muss ihn und die vier Kinder mit Putzen durchbringen. Der Umzug in die größere Wohnung in einer bürgerlichen Umgebung bedeutet neue Pein: Die Nachbarn lassen die Kinder ihre Armseligkeit spüren, nicht einmal das Spielen auf dem engen Hof wird ihnen zugestanden, der den Kindern mit seinem Brunnen und den Fischen darin ein bisschen Leben verspricht.
Erst der Umzug nach Anguillara Sabazia am Lago di Bracciano gibt Hoffnung. Die Mutter verspricht sich hier einen positiven Neuanfang. Für die Tochter ist das Leben in der Provinz anfangs schwierig, denn hier trifft sie unmittelbar auf die Kinder der Mittelschicht, die alles haben, was für sie unerreichbarer Luxus ist.
Ihre Trümpfe hingegen sind ihre Stärke, ihr Mut und ihre Intelligenz. Dennoch fühlt sie sich auf dem Gymnasium, zu dem ihre Mutter sie nach Rom fahren lässt, ausgegrenzt. Da wird ihre ärmliche Ausstattung in Kleidung und Schulsachen noch sichtbarer. Es gelingt ihr dann aber, sich durch mutiges, allerdings auch gewalttätiges Auftreten gegenüber einem verwöhnten Mittelschichtssöhnchen Respekt zu verschaffen und schließlich Freundinnen und Freunde zu finden.
Als Leserinnen begleiten wir sie durch Freud und Leid der Jugendjahre. Zentrum dieses Lebens ist im Sommer der See, an dem man sich begegnet, erste Liebe und Enttäuschungen erlebt, an dem die Jugendlichen der Enge der Elternhäuser zu entrinnen versuchen. Der See ist die Verheißung, das ein anderes Leben möglich ist, bietet er doch im Sommer einen Ort der Freiheit. Der See selbst birgt der Legende nach eine untergegangene Stadt, eine versenkte Krippe, aber er bleibt ein Geheimnis wie die Zukunft der Jugendlichen. Gaia ist es, die sich als Mädchen traut hineinzuspringen, was ihr Respekt bei Mädchen und Jungen verschafft.
Gaia ist die Ungestüme, die es wissen will, die mit Macht für sich eine bessere Zukunft erkämpfen will. Dazu gehören die beste Freundin aus besseren Verhältnissen wie auch die Beziehung zu einem der reichen Söhne des Ortes, dazu gehört aber auch verbissenes Lernen für einen guten Schulabschluss. Dennoch kommt Gaia nicht richtig an in dieser Gesellschaft von jungen Leuten, die trinken und Drogen nehmen und nicht an morgen denken. Immer wieder wendet sie sich abrupt ab, stößt andere vor den Kopf, macht eine Kehrtwendung aus der Gruppe hinaus. So erlebt sie sowohl das Gefühl der Zugehörigkeit, aber auch immer wieder das der Ausgrenzung. Sie bleibt die andere, die mit den roten Haaren, die aus der ärmlichen Familie, die sich von der Freundin die schicken Kleider leihen muss, die oft zu eng oder zu kurz sind.
Gefühle lässt sie kaum zu, zu stark ist Angst vor Enttäuschung. Nicht einmal der Selbstmord einer Freundin kommt an sie heran.
Auf die Erfahrungen von Verrat und Verlust weiß sie nur mit Gewalt zu reagieren, scheut sich nicht, dazu die Unterstützung eines Freundes zu suchen, dessen geringe Schwelle gegenüber Straftaten ihr bekannt ist. Wer sie betrügt, muss bestraft werden.
Zu Hause hat sie den Kampf mit der noch stärkeren Mutter durchzustehen, die noch in das Leben der jungen Erwachsenen hineinreagieren will und für sie Zukunftspläne macht.
Tatsächlich macht Gaia ein sehr gutes Abitur. Umso mehr trifft sie der demütigende Vorschlag der Lehrerin, sich einen Job zu suchen, der völlig unter ihren intellektuellen Möglichkeiten liegen würde. Wieder holt sie ihre familiäre Situation ein. Aus Trotz wählt sie kein Studium, das auf einen guten Brotberuf zielt, sondern Philosophie. Nichts anderes!
Mit dem Studium sind die Jugendsommer am See vorbei, man trifft sich noch gelegentlich, aber das Versprechen des Sees zieht nicht mehr, das leichtfertige Sommerleben lässt sich nicht mehr herstellen.
Dazu gehört auch das Eindringen von Krankheit und Tod in Gaias Leben: Als die ehemals beste Freundin stirbt, kann sie Trauer und emotionale Verbundenheit zulassen. Sie ist gereift.
Das Philosophiestudium schließt sie mit Bestnoten ab, die Hoffnung auf ein Promotionsstipendium und eine anschließende Universitätskarriere zerschlägt sich jedoch. Da sie aber nicht gleichzeitig die Befähigung zum Unterrichten an Schulen erworben hat, findet sie keine ihrer Qualifikation entsprechende Anstellung. Damit ist sie zurückgeworfen auf die Abhängigkeit von ihrer Mutter, muss Geld mit Putzen verdienen. Die Aussichten sind trübe. In dieser Situation kann sie nur zerstörerisch reagieren. Hier spielt auch Wasser eine Rolle, diesmal jedoch in seiner zerstörerischen Kraft, nicht in der verheißungsvollen, lebendigen Kraft des Wassers. Wie das ausgeht, bleibt offen.
Betroffen verharrt die Leserin an diesem Punkt des Romans, fühlt die Ohnmacht der Protagonistin mit, der der soziale Aufstieg trotz allen Kämpfens nicht gelingen will. Es gibt offenbar keine Perspektive für ein anderes Leben.
Wäre da nicht eine Art Epilog, das letzte Kapitel „See ist ein Zauberwort“! Wir sehen Gaia nach einem offenbar großen zeitlichen Abstand in einem Auto durch Anguillara fahren. Jetzt spricht sie nicht mehr in der ersten Person, vielmehr spricht sie sich mit reflexiver Distanz selbst an. Überall trifft sie auf Erinnerungsorte und Zeichen früherer Ereignisse. Doch sie hält nirgends an, ihr Ziel ist der See, wo sie in Gedanken noch einmal der toten Freundin begegnet.
Hat sie es also doch geschafft? Ist sie in einem besseren Leben angekommen und kann nun ohne Hass die Orte ihrer Jugend noch einmal aufsuchen? Dann hat der See, die lebenspendende Kraft des Wassers, doch das Versprechen an die junge Gaia eingelöst. Die Leserin wünscht es ihr.
Insgesamt ist das ein eindringlicher, in vielen Passagen auch verstörender Roman, der ohne jede Beschönigung den Finger auf den Teufelskreis von prekärer Familiensituation für Kinder und Jugendliche zeigt. Zu oft gibt es keinen Ausweg, weil die gesellschaftlichen Institutionen ignorant oder gleichgültig sind, weil Kinder nicht gestärkt, sondern gedemütigt werden, weil es in den bürgerlichen Mittelschichten kaum jemanden interessiert, wie viele Familien in prekären Verhältnissen leben.
Damit ist der Roman eine Anklage gegen eine Gesellschaft, die Ungleichheit verstärkt, statt sie zu bekämpfen.
Gerade für uns Deutsche mit unserer immer noch vorhandenen romantischen Italiensehnsucht ist das ein wichtiger Roman. Wir lieben das halb Verfallene italienischer Altstädte, wir fotografieren solche „idyllischen“ Winkel und engen Gassen, statt zu fragen, wie die Menschen hier leben.
Das Buch ist im Verlag Klaus Wagenbach erschienen, aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner. Es hat 315 Seiten und kostet 26 Euro.
Elke Trost
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