Der Untertitel dieses Buches, „Säkulare Religion für eine neue Welt“, suggeriert auf den ersten Blick eine Abrechnung mit alternativen „Religionen“ à la Esoterik, Ideologie oder Verschwörungstheorie. Doch ganz im Gegenteil rechnen Friederike Müller-Friemauth und Rainer Kühn nicht mit Querdenkern oder Sektierern ab, sondern fordern tatsächlich für die Neugestaltung, ja: Rettung unserer Welt eine neue Spiritualität, wie man sie als Grundlage jeder Religion kennt. Allerdings gründet sich diese Spiritualität nicht wie bei den herkömmlichen Religionen auf eine externe, „allwissende und allmächtige“ Instanz, sondern allein an das Bewusstsein des Menschen.
Als Grund für die aktuelle, bedrohliche Weltlage – Klimawandel, Kriege, KI – sieht das Autorenteam den westlichen „Logos“. Darunter verstehen sie jedoch nicht (nur) die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts oder gar den (US-)Kapitalismus, sondern die europäische Denkungsart seit der griechischen Antike. Diese entwickelte den Begriff des „Logos“, den wir heute mit Rationalität oder Logik gleichsetzen, und schuf mit Denkern wie Platon oder Aristoteles die Grundlage des okzidentalen Denkens. Die Biologie spielt als rein körperliche Voraussetzung der Existenz eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für ein gelungenes „Leben“, wobei dieser Begriff weiter zu fassen ist als nur die zeitliche Existenz des individuellen homo sapiens.
Die Autoren – wir benutzen hier bewusst das generische Maskulinum – verlangen jedoch eine neuerliche „re-ligio“ (lat.: „Rückbindung“) an die Biologie, wobei sie diese Rückbindung auf die Zeit vor dem Erscheinen des „Logos“ festlegen. Angeblich habe der Mensch sich zu diesem Zeitpunkt noch in einem symbiotischen Einvernehmen mit der Natur befunden und seine Spiritualität aus letzterer bezogen. Die „Re-ligio“ an eine außerweltliche Instanz lehnen sie kategorisch ab, da diese nur als Notbehelf in einer frühen Zeit der Evolution erforderlich sei. Mittlerweile habe sich der homo sapiens soweit entwickelt, dass er Spiritualität und Wertsysteme aus seinem eigenen Bewusstsein entwickeln könne.
Die Autoren lehnen den Logos jedoch nicht vollständig ab, ebenso wie die (Natur-)Wissenschaften als dessen logische Konsequenz. Nur soll künftig der Logos unter der Regie der Spiritualität stehen und nicht umgekehrt. Das westliche Denken sieht das Autorenduo als „empiristisch vereinseitigte Wahrheitswissenschaft“. Das bedeutet, dass Wahrheit für die beiden keine objektive Größe ist, die sich generalisieren lässt, sondern sich im Bewusstsein bildet und durchaus unterschiedliche Züge annehmen kann. In einer neuen spirituellen (Welt-)Gesellschaft könnte empiristisches Wissen unterschiedlich gedeutet werden. Etwas polemisch könnte man hier das Beispiel des geozentrischen Systems anführen, dass sich ja „zwangsläufig“ aus der Tatsache ergibt, dass Sonne, Mond und Sterne morgens im Osten aufgehen und abends im Westen untergehen. Dieses Beispiel soll hier jedoch nicht als polemische Generalabrechnung mit dem Buch dienen; dazu ist das Buch zu ernsthaft und intellektuell seriös angelegt.
Statt des heutigen „Wirklichkeitssinns“ der Empiriker fordern die Autoren einen „Möglichkeitssinn“ auf Augenhöhe, der auch ohne logische(!) Belege seine Existenzberechtigung haben müsse. Um ihre Forderungen zu belegen, rücken die beiden den philosophischen Kernbegriffen zu Leibe. So diskutieren sie eingehend den Begriff des „Bewusstseins“, das sie nicht auf das menschliche „Ego“ im Sinne von Selbstbewusstsein beschränken, sondern dessen wesentlichste Eigenschaft in einer „Beziehungsintelligenz“ bestehe. In dieser neuen spirituellen Welt stehe die sich laufend ändernden Beziehungen zwischen den Teilnehmern der Welt, als da sind Menschen, Tiere, Pflanzen und andere Materie, im Mittelpunkt, während der „Logos“ der empirischen Wissenschaften, sprich: des Okzidents, eine statische Sicht auf die Welt pflege und deren Elemente bis ins kleine am dinglichen Objekt seziere und zu erklären versuche. Die Welt des Lebens sei aber nicht durch ein (statisches) „Sein“, sondern durch ein dynamisches „Werden“ geprägt, das sich nur durch spirituelle Kraft wahrnehmen lasse.
Diese Spiritualität wird in den klassischen Religionen – explizit zumindest in den christlichen – mit dem Begriff der Transzendenz gekennzeichnet, der die Überschreitung des Weltlichen im Denken und Sein beschreibt. Da sich dieser Begriff in der säkularen Version nicht mehr eignet, haben die Autoren das Äquivalent der „Introszendenz“ geschaffen, das die nach außen gewandte Transzendenz ins Innere des menschlichen Bewusstseins verlegt. Für das denkende Individuum hat es die gleichen Auswirkungen, erlaubt damit jedoch nicht mehr die Delegierung des eigenen Denkens und Handelns nach außen bzw. „oben“. Durchaus im Sinne des Autorenduos bleibt der Mensch für sein Schicksal und das der anderen Lebewesen verantwortlich. In diesem Sinne erweitern die beiden den Verantwortungsbereich gleich auf den gesamten Erdkreis, denn die „Schöpfung“ ist jetzt nicht mehr ein von höherer Stelle überlassenes „Geschenk“ zwecks Beherrschung und Bewahrung, sondern „nur noch“ die selbst zu erhaltende Grundlage des eigenen Daseins.
In diesem Zusammenhang definieren sie sieben „Denksünden“ der heutigen okzidentalen Welt: (1) Bedeutung und Art des Glaubens (trivialisiert?);(2) Definition von Wahrheit (gibt es die überhaupt?); (3) Hoffnung und Zuversicht (Technologie?); (4) Introszendenz (Yoga, Esoterik?); (5) Menschenbild (Google-Algorithmen?); (6) Bewusstsein und Seele (was bedeutet das heute überhaupt?); (7) Logik und Weltbild (Bruch durch Quantenmechanik?). Jedes dieser sieben Themen wird auf seinen heutigen Stellenwert im Okzident – vornehmlich Europa – untersucht, wobei die Autoren unserem Denken die schon erwähnten Denksünden – jeweils in Klammern angedeutet – bescheinigen bzw. unterstellen.
Als philosophisch-spirituelle Momenaufnahme lässt das Autorenduo drei zeitgenössische Denker und ihre Haltung zur Transzendenz und Spiritualität unter Berücksichtigung der erwähnten Denksünden Revue passieren. Der Sozialphilosoph und überzeugte Katholik Charles Taylor kennt und akzeptiert nur die herkömmliche Art des Glaubens und der Transzendenz. Säkularisierung ist für ihn grundsätzlich ein spirituelles Übel. Die Autoren haben ihn offensichtlich nur als – allerdings zeitgenössischen! – Gegenpol eingeführt. Habermas dagegen kann sich durchaus mit einer säkularen Spiritualität anfreunden, sieht diese allerdings nur als Resultat einer von Vernunft gesteuerten Kommunikation. Und der Israeli Yuval Noah Harari, Verfasser des dystopischen „Homo Deus„, fällt ob seines zu geringen Zukunftsglaubens und seiner Beschränkung des Spirituellen auf den Buddhismus etwas heraus.
Die drei ausgewählten Denker sollen offensichtlich ein breit gefächertes Bild des heutigen (spirituellen) Denkens liefern, suggerieren dabei jedoch eine Verallgemeinerung, die sich so nicht akzeptieren lässt. Die philosophische Welt in Europa wird durch diese drei Beispiele nicht repräsentativ erfasst.
Bei aller Betonung der säkularen Spiritualität, ihrer Abgrenzung zu dem herkömmlichen Pendant und ihrer Notwendigkeit für die Zukunft fallen doch einige Widersprüche auf. Da ist zum Ersten die Aversion gegen den „Logos“. Der hat uns zwar tatsächlich in die heutige Situation geführt, aber durchaus nicht in einem zielgerichteten menschlichen Abstieg, sondern in Gestalt der durch Medizin und Biologie gestärkten Abwehrkraft des Menschen und der damit einhergehenden Erhöhung der Lebenserwartung, Reduzierung der Kindersterblichkeit und vieles andere mehr. Ironischerweise haben gerade diese Erfolge zu der für viele Probleme (die meisten?) ursächlichen Überbevölkerung geführt. Allerdings erwähnen die Autoren neben anderen Menetekeln – Kapitalismus, Klimawandel, KI – die Überbevölkerung mit keinem Wort, ähnlich wie viele Umwelt-Aktivisten. Außerdem dient der Logos in einer multi-spirituellen Welt als gemeinsame Klammer. Regionale spirituelle Systeme können durchaus – wie wir in Vergangenheit und Gegenwart leidvoll sehen – unverträgliche Züge annehmen, die fast zwangsläufig zu Konflikten führen. Ohne zumindest den Ansatz einer allgemein akzeptierten Vernunftbasis lassen sich diese nicht mehr beherrschen. Stellt man den Logos von vornherein unter die Regie des spirituellen Bewusstseins, verliert er automatisch seine Klammerfunktion. Denn das Spirituelle verweigert den vernünftigen Diskurs, wenn dieser dem eigenen Bewusstsein widerspricht.
Die Ausführungen des Autorenduos gelten hauptsächlich dem europäischen Okzident. Die USA kommen hier nur als dystopisches (KI-)Kalifornien vor, in dem die Algorithmen von Google und Co. regieren. Trotz der Vermeidung jeglicher vordergründiger Polemik unterliegen sie hier einem Vorurteil, denn einerseits verfügen auch die USA über eine kritische philosophische Front, und andererseits ist die Spiritualität dort wesentlich stärker ausgeprägt als in Europa, wenn auch im traditionellen religiösen Umfeld. Man könnte sich daher eine säkulare Spiritualität in den USA fast besser vorstellen als in Europa. Asien dagegen besetzt mit einer nicht näher spezifizierten Spiritualität den Gegenpol und wird latent als Vorbild hingestellt, wobei – wohl bewusst! – China, Nordkorea, Myanmar und ähnliche Länder nicht erwähnt werden.
Im Schlussteil werden die beiden Autoren nach der langen Reise durch die Philosophie und Geistesgeschichte konkret und unterbreiten Vorschläge für eine säkulare Spiritualität, die völlig neue Möglichkeiten bis hin zu einer explosionsartigen Erweiterung des menschlichen Bewusstseins eröffnen sollen. Die fallen dann trotz ihrer jeweiligen Berechtigung eher konventionell aus. Das Team verlangt von einem säkular-spirituellen Europa unter anderem den Verzicht auf die Hegemonie des Weltbildes und das Zuhören sowie die Akzeptanz fremder Kulturen. Das kann man unterschreiben, wobei man natürlich fragen sollte, ob man damit auch die Weiterverbreitung von Konzepten wie Menschenwürde und Selbstbestimmung aufgeben soll. Praktisch gesprochen könnte Europa Putin freie Hand lassen, weil der Osten halt eine andere Kultur und Spiritualität sein eigen nennt…..
Am Ende dieses spirituell und menschlich engagierten Buches bleiben viele Fragen offen. Man möchte den Autoren in vielen Dingen Recht geben, stolpert aber immer wieder über die erwähnten Fallstricke und die Vagheit der beschworenen Spiritualität. Allerdings liegt das in der Natur der Sache: Spiritualität lässt sich mit rationaler Logik nicht herleiten, sonst wäre sie keine. Abschließend sei auf die Ironie der Herangehensweise hingewiesen, die das Vage und Introszendente über weite Strecken mit hohem logischen(!) Aufwand zu beschreiben und rechtfertigen versucht. Ausgerechnet das zentrale Element der Kritik, der „Logos“, dient vor allem bei der Strukturierung des geistigen Umfelds zum Nachweis seiner Abschaffung oder – zumindest – Verdrängung. Das könnte man zirkulär nennen.
Das Buch ist im Verlag Edition Konturen erschienen, umfasst 317 Seiten und kostet 28 Euro.
Frank Raudszus
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