In Darmstadt wird jährlich der „Büchner“-Preis für herausragende Bücher verliehen, und nicht nur das Staatstheater Darmstadt inszeniert regelmäßig die zeitlosen Theaterstücke von Büchner – Georg Büchner. Dabei fällt meist unter den Tisch, dass dieser Büchner nicht nur drei erfolgreiche Brüder hatte, sondern auch zwei Schwestern, die ihren Lebensweg unter ungleich schlechteren Bedingungen gehen mussten. Eigentlich ist es überflüssig zu erwähnen, dass das Wirkungsfeld der Frauen im 19. Jahrhundert auf Kinder, Küche und Kirche reduziert wurde und ihnen aus wissenschaftlich-männlichem Munde sogar eine geringere Intelligenz und Bildungsfähigkeit zugeschrieben wurde.
So wuchs auch die 1821 geborene Luise Büchner unter diesen Bedingungen auf, fand wegen einer unfallbedingten Körperbehinderung keinen Mann und lebte bis zu ihrem Tod im Jahr 1877 mit ihrer ebenfalls ledigen Schwester in einem Haushalt. Doch sie führte dort kein Leben als verkümmerte „alte Jungfer“, sondern entwickelte sich autodidaktisch zu einer ernstzunehmenden Schriftstellerin und aktiven Kämpferin für Frauenrechte und -bildung.
Nach der Hommage an die beiden Büchner-Schwestern in dem Stück „Luise & Mathilde“ im Büchnerjahr 2012 hat das Staatstheater Darmstadt, sozusagen als Sachwalter der hiesigen Büchner-Familie, ein neues Stück über Luise Büchner herausgebracht, das als musikalisches Kammertheater und Textcollage konzipiert ist. Als Spielort hat man bewusst die historische Spielstätte „Die goldene Krone“ gewählt. Es wäre zwar verlockend zu behaupten, dass schon Georg und Luise Büchner hier ihren Schoppen getrunken haben, aber leider stimmt es nicht, da die Gaststätte erst nach dem Tode beider erbaut wurde. Doch sie gehört sozusagen – wie die Büchners – zum historischen Kern der Stadt.
„Becoming Luise Büchner“ wird auf der historisch-bodenständig anmutenden Bühne der „Krone“ von zwei Darstellerinnen in Szene gesetzt. Nora Solcher ist dabei weitgehend für die gesprochenen Texte und die Mezzosopranistin Lena Sutor-Wernich schwerpunktmäßig für den Gesang zuständig. Am Rande der schmalen Bühne sitzen die Pianistin Elene Postumi und die Kontrabassistin Milena Röder-Sorge in geblümten Vermummungen an ihren Instrumenten, wobei der Flügel wegen einer ebenso farbigen Vermummung als solcher kaum zu erkennen ist.
Nach einem aus dem „Off“ gesprochenen Lebenslauf der Luise Büchner beginnen die beiden Frauen auf der Bühne mit einem scheinbar beiläufigen Small Talk, der sich jedoch schnell zu einer dichten Collage aus Texten Luise Büchners und eigenen Anmerkungen entwickelt. Dabei wird keine Handlung im klassischen Schauspielsinn konstruiert, sondern nur Situationen aus dem Leben und dem gesellschaftlichen Kontext von Luise Büchner in assoziativer Form verbildlicht. Hinweise auf Quellen dieser Texte fehlen ebenso wie eine zeitliche oder politische Einordnung. Bewusst lässt man die Texte für sich sprechen, etwa, wenn es um die mangelnde Bildungschancen für Frauen und Mädchen oder ihre buchstäbliche Einkerkerung in die häuslichen Wände geht. Die ausgewählten Texte erklären sich selbst und benötigen keine weitere Erläuterungen. Die angedeutete Dialogform und kontextuelle Miniszenen lockern dabei die Textpräsentation auf. So befreien die beiden Damen erst einmal die Pianistin und ihr Instrument von ihren einengenden Kleidungsstücken, die dabei ihren metaphorischen Zweck auf das Korsett und andere einengende weibliche Kleidungsstücke des 19. Jahrhunderts verdeutlichen.
Die beiden Musikerinnen unterlegen das Bühnengeschehen von Beginn an mit so zurückhaltender wie prägnanter Kammermusik. Spiegelt diese anfangs noch das 19. Jahrhundert – es könnte Schubert oder Schumann sein -, so schreitet sie bald in die Moderne weiter, wenn Lena Sutor-Wernich ihre Lieder vorträgt. Deren Texte drehen sich, soweit man das nachverfolgen kann, stets um die Rolle der Frau. Da sie entweder in Französisch oder, wenn deutsch, dann in künstlerischem Stil gehalten und mit entsprechender Artikulation gesungen werden, sind sie nicht leicht zu verstehen. Doch auch ohne vollständiges Textverständnis erkennt man in jedem Lied dank der Ausdruckskraft der Sängerin das Leid und die Kritik an der Situation der Frau.
In den Gesprächspassagen mischen Nora Solcher und Lena Sutor-Wernich die Zeiten geschickt, indem sie kritische Passagen aus den Schriften Luise Büchners mit entsprechenden Schlagworten und Begriffen des heutigen Feminismus oder der Frauenrechtlerinnen mischen. Da fällt auch schon einmal die Frage, was denn die Liebe eigentlich sei oder wie man es mit dem Sex halte. Dabei fragt man auch gerne die erste Reihe des Publikum beiläufig, ob Liebe politisch sei, und Ähnliches. An der Rückseite der Bühne hängen große Stoffrollen mit demselben Muster wie die Vermummungen der Pianistin, und diese werden wie Rollen aus einer Zeitungsdruckerei vor dem Publikum aus- und vorgelesen, natürlich stets mit Texten von Luise Büchner. Und während ihre Kollegin wieder einmal singt, hat sich Nora Solcher mit den diversen Kleidungsasservaten ausstaffiert und steht erstarrt in dieser sie sichtbar einengenden Korsettage, nur noch mit Augenlidern und Mundwinkeln zuckend. Ein bitter-humoristischer Zerrspiegel der Damen(ver)kleidung des 19. Jahrhunderts.
Wenn nach etwas über einer Stunde die letzten Töne des Flügels verklingen und langsam das Licht erlischt, hat man sich keinen Augenblick lang gelangweilt und auch nie das Gefühl einer moralischen Belehrung gehabt. Regie und Darstellerinnen – bewusst nur Frauen! – haben den schmalen Grat zwischen Agitation und Moralin die ganze Zeit souverän abgeschritten.
Kräftiger Beifall aus dem offensichtlich ausverkauften Saal.
Frank Raudszus
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