Der belgische Philosoph Jean-Pierre Wils, dessen Buch „Der große Riss“ wir hier besprochen haben, widmet sich in dem vorliegenden Sammelband dem aktuellen Thema „Identität“. Neben einem eigenen Beitrag sind dort auch bekannte Diskursteilnehmer wie Christoph Türcke oder Hans Joas vertreten. Um alle Aspekte der Identitätsfrage zu beleuchten, hat Wils das Buch in einen wissenschaftlichen Teil, „Positionen“ übertitelt, sowie einen lebenspraktischen Teil mit Beispielen unter dem Titel „Praktiken“ unterteilt. Es folgt ein Interview des Herausgebers mit dem Religionsphilosophen Hans Joas sowie drei Beiträge, die ihrem scheinbar singulären Titel „Kontroversen“ nur bedingt entsprechen, weil im Grunde der gesamte Band diesen Titel tragen könnte.
Der erste Teil setzt sich auf wissenschaftlicher Basis kritisch mit dem Identitätsbegriff auseinander, wobei fern aller Polemik Logik und Empirie im Vordergrund stehen. Christoph Türcke sieht einen auf der Rhizom-Theorie – Vernetzung kleinster selbständiger Elemente – von Deleuze/Guattari aufbauenden „Feldzug gegen die (sexuelle) Binarität“ am Werk, der Binarität als geschlechtliche Bevormundung ächtet. Doch die gleichzeitige Frontalstellung dieses Feldzuges gegenüber dem Kapitalismus geht laut Türcke fehl, da dieser längst eine pragmatische Indifferenz gegenüber dem Geschlecht an den Tag lege. Die von der Identitätsbewegung geforderte Selbstbestimmung der Identität ist für ihn selbst binär, da ausschließend.
Wils selbst sieht die Identitätsbewegung als Ersatz für die ausgelaugte Religion mit dem Ziel, über Inklusion und Exklusion wieder eine Gemeinschaft zu bilden, die sich durch Anderssein, sprich: Opposition definiert. Dabei sieht er Reckwitz´ „Gesellschaft der Singularitäten“ von einer linken Emanzipationsbewegung in eine rechte Reaktion libertärer Individualisten umschlagen. Schließlich stellt sich für Wils die Frage, ob die Identitätsbewegung Gleichheit oder Unterschiedlichkeit propagiert.
Ein etwas abgelegener Beitrag beschäftigt sich mit der Reue, speziell der religiösen. Dabei unterscheidet Gunda Werner zwischen „absoluter“, d.h. erkenntnis-orientierter, und interessen-geleiteter, sprich aus Angst geborener, Reue.
Die Bedeutung des Bildes, vor allem im Zeitalter der „social media“, hebt Bernd Stiegler hervor. Demnach schafft das Aussehen quasi-archaische Gemeinschaften, die sich letztlich als Ethnien oder gar als Rassen lesen lassen. Die allfälligen Stereotypen, nicht zuletzt in der Polizeiarbeit, schaffen dabei konstruierte Identitäten. Dazu gehören für ihn auch der Selbstversicherung und Zugehörigkeit dienenden identitären Selbstzuschreibungen.
Ein weiterer religionsorientierter Beitrag von Gert Schwerhoff sieht den Blasphemie-Vorwurf als Kampfmittel im Opferwettbewerb und als argumentative Immunisierung der eigenen Position. In diesem Zusammenhang wirft der Autor auch der Populismuskritik populistische Eigenschaften vor, da sie mit moralischer Selbstgerechtigkeit einhergehe.
Bettina Paust sieht Joseph Beuys als Meister der Identitätsinszenierung und seine Biographie als ein eigenes Kunstwerk. Nach Beuys ist der Mensch eine „soziale Plastik“, die durch unbegrenzte Flexibilität und kreative Variabilität die Voraussetzungen für Veränderungen der – realen – Gesellschaft bietet.
Den „starken“ und den „schwachen“ Staat unterscheidet Burkhard Liebsch nach militärischen Kriterien. Die Aufrüstung des Westens nach dem Überfall auf die Ukraine ist für ihn ein Fehler, da sich der Westen damit auf das Niveau Russlands begebe. Der scheinbar schwache demokratische Staat ist für ihn eigentlich der starke, weil er zur Aufgabe der Macht im demokratischen Wechsel bereit sei, währen der scheinbar starke autoritäre Staat durch die Betonung der Macht erst seine Identität schaffe und damit eigentlich schwach sei. Allerdings sagt Liebsch nichts zur sich geradezu aufdrängenden Frage, wie sich ein militärisch bewusst schwacher Staat gegen den Überfall eines angeblich schwachen, weil autoritären Angreifers wehren soll. Man denke da nur an den September 1939.
Unter „Praktiken“ folgen dann eher Betroffenheitsappelle aus dem Diversitätslager. Die eher politisch als wissenschaftlich orientierten Grünen-Politikerinnen Tessa Ganser und Kerstin Oldemeier emotionalisieren den Einzelfall einer Transperson bis hin zur Skandalisierung, da sie die Ausgrenzung ihres Protagonisten als Fehler der Gesellschaft interpretieren, die Geschlechtsumwandlungen erschwere oder gar unmöglich mache. Dabei weisen sie in einem Nebensatz auf den angeblich wissenschaftlichen Nachweis der Non-Binarität hin, obwohl einschlägige wissenschaftliche Veröffentlichung – unter anderem auch von Autoren dieses Sammelbands – eben das stark bezweifeln. Zwei weitere Autoren fügen weitere emotionalisierte Einzelfälle ohne großen Erkenntnisgewinn hinzu.
Eine ähnliche Argumentation, wenn auch mit anderen Schwerpunkten, vertritt der Psychotherapeut Barth. Er kritisiert die Leistungsansprüche an Jugendliche, fordert die Abschaffung von diskriminierenden Noten und die Bevorzugung von Kompetenzen – welche sind das?? – gegenüber Sachwissen. Man fragt sich einerseits, wer zukünftig mit welchem Wissen den für die Umsetzung solcher großzügigen Konzepte erforderlichen Wohlstand erarbeiten soll, und andererseits, ob der Autor seine Qualifikation zum durchaus elitären Psychotherapeuten ohne Wissen und nur mit vagen Kompetenzen erworben hat.
Das Interview zwischen Jean-Pierre Wils und Hans Joas geht den in diesem Buch aufgeworfenen Fragen im Dialog nach und zeitigt unter anderem die für einen Religionsphilosophen erstaunliche Feststellung von Joas, dass er selbst einen philosophischen „Pragmatismus“ den großen Ideen und Utopien vorziehe.
In der abschließenden „Kontroverse“ geht es im Wesentlichen um die Menschenrechte und ihre Umsetzung. Unter anderem wird dort der Vorwurf – vor allem aus Entwicklungsländern – verhandelt, die Menschenrechte seien ein „weißes“ Elaborat und ihnen damit quasi von den früheren Kolonialmöchten oktruiert, und man habe sie nicht nach ihrer Sicht der Menschenrechte gefragt. Die Reaktion der Autoren ist seltsam ambivalent, einerseits eine deutlichen Ablehnung durch den „weißen Mann“ scheuend, andererseits eben diese Menschenrechte nicht verleugnen wollend, und man fragt sich, warum man die Beschwerdeführer nicht einfach fragt, was sie – unabhängig vom ursprünglichen Verfasser – denn inhaltlich an den angeblich von den „Weißen“ diktierten Menschenrechten nicht passt.
Der Essay-Band bietet viele unterschiedliche An- und Einsichten zum Thema „Identität“, enthält aber auch Artikel mit „identity washing“-Charakter, die durch subjektive Betroffenheit mit wenig Erkenntnispotential geprägt sind. Das ist wohl das Zugeständnis, dass der Herausgeber an die Identitäts-„Szene“ im Sinne eines Dialogs machen zu müssen glaubte.
Das Buch ist im Hirzel-Verlag erschienen, umfasst 282 Seiten und kostet 28 Euro.
Frank Raudszus
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