Wer heute als Tourist die Welt bereist, speichert die Objekte seines Fernwehs optisch auf seinem iPhone – ob mit oder ohne Selfie – und präsentiert sie seiner Gefolgschaft im Internet. Das war im 18. Jahrhundert nicht möglich, ja – dort kannten die meisten Menschen fremde Länder und Städte nur dem Hörensagen nach. Da lag es für Leute mit Geld nahe, sich von einschlägigen Künstlern gezeichnete Stadt- (und Land-)ansichten – sogenannte „Veduten“ – zu Hause an die Wand zu hängen, um einerseits durch sie schöne Erinnerungen zu wecken und andererseits nicht so weit gereiste Mitmenschen zu beeindrucken.
Der Venezianer Bernardo Bellotto (1732-1780) war einer von ihnen, und er übernahm von seinem Onkel Giovanni Antonio Canale nicht nur dessen künstlerische Fähigkeiten, sondern auch den Beinamen „Canaletto“. Schon damals war Venedig dank seiner besonderen Wasser-Architektur ein touristischer Magnet für ganz Europa, und so lag es nahe, für diesen zahlungskräftigen Besucherstrom attraktive Ansichten der Stadt und ihrer Umgebung anzufertigen. Im Gegensatz zu Gemälden waren diese eher kleinformatigen Grafiken preiswerter und vor allem leichter zu transportieren.
Das Hessische Landesmuseum präsentiert in der Ausstellung „Remember Venice. Bernardo Bellotto zeichnet“ anlässlich Bernardo Bellottos 300. Geburtstages eine ganze Reihe von Zeichnungen – und auch von Gemälden nach diesen Zeichnungen – von ihm und einigen seiner Zeitgenossen. Etwa die Hälfte der nur 140 über die Jahrhunderte erhaltenen Arbeiten liegen glücklicherweise im eigenen Archiv des HLMD und konnten daher für diese Ausstellung herangezogen werden. Andere stammen aus dem ebenfalls bedeutenden Warschauer Archiv und aus weiteren Quellen. Die Gründe für diese Verteilung der Arbeiten liegen an Bellottos politisch begründeter „Vertreibung“ aus dem venezianischen Paradies, die ihn erst nach Dresden und dann nach Warschau führte.
Die Arbeiten der Ausstellung sind chronologisch organisiert. Man erkennt daran sehr gut, wie Bellotto lernte. Seine frühen Stadtansichten zeigen noch etwas schiefe Gebäude, nur annähernd runde Rundfenster und variable Strichdicken, natürlich nicht auf dem Niveau eines durchschnittlich begabten Zeichners, aber doch erkennbar. Dann wird die Strichführung immer sicherer, die Formen werden stabil, und der zeichnerische Ausdruck wird aussagekräftiger. Nun entstanden immer detailliertere und facettenreiche Veduten von Venedig und dessen ländlicher Umgebung bis nach Padua. Einige von ihnen dienten dabei als Vorlage für größere Gemälde, die teilweise ebenfalls in der Ausstellung zu sehen sind. Nach den Räumen mit den italienischen Ansichten folgt dann noch ein Raum mit Zeichnungen aus seiner Dresdner Zeit. Auch diese haben im Laufe der Zeit vor allem in Deutschland geradezu ikonischen Status errungen.
Die Ausstellung ist nicht nur Freunden der graphischen Kunst oder gar Venedigs zu empfehlen, sondern allen denen, die sich durch künstlerische Darstellungen gerne in alte Zeiten zurückversetzen lassen, um ein Stück des damaligen Lebensgefühls zu erahnen. Um dieses Erlebnis zu vervollständigen, kann man im HLMD noch das Buch „Canaletto in Dresden“ von Raimund Herz und Martin Schuster erwerben, das unter Heranziehung alter Texte und mit vielen Bildbeispielen die Dresdner Zeit des venezianischen Künstlers veranschaulicht. Dieses Buch vermittelt einen detaillierten Eindruck nicht nur des alten Dresdens, sondern auch und vor allem des damaligen Lebensgefühls, das sich in den vielen eingestreuten Abbildungen von Männern, Frauen, Kindern und Menschengruppen niederschlägt. Bei dem Durchblättern dieses Buches entsteht so etwas wie historisches Fernweh. Das Buch ist im Verlag Michael Imhof erschienen und kostet 14,95 Euro. Außerdem bietet das HLMD in seinem Shop noch den Katalog zur Ausstellung unter dem Titel „Bellotto zeichnet“ für 38,50 Euro an.
Die Ausstellung „Remember Venice“ im HLMD ist noch bis zum 15.1.2023 geöffnet.
Frank Raudszus
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