In der Pressekonferenz bezeichnete Schirn-Direktor Sebastian Baden den russisch-jüdischen Maler Marc Chagall als „oftmals verkannten“ Künstler. Dies bezog er jedoch auf die Interpretation seiner Werke, da der weitgereiste Chagall in seinem langen Leben eine Reihe verschiedener künstlerischer Stadien durchlief. Seine auf das Wesentliche abstrahierten Figuren und Objekte wirken auf den ersten, flüchtigen Blick naiv, verbergen aber hinter ihrer scheinbar einfachen Fassade tiefe Emotionen und Erkenntnisse.
Marc Chagall kam 1887 im weißrussischen Witebsk zur Welt und starb 1985 in Frankreich. Zeitlebens litt er unter der international – vor allem in Europa – weit verbreiteten Judenverfolgung und verarbeitete dieses Thema immer wieder in seinen Bildern.
Die Kunsthalle Schirn konzentriert sich in der laufenden Ausstellung mit dem Untertitel „Welt im Aufruhr“ auf die dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts, exakt auf die Zeit von 1931 bis 1948. Die Ausdehnung über die historisch besonders markante Zeit 1933-1945 ist bewusst gewählt, da einerseits die antisemitischen Pogrome bereits vor dem Nationalsozialismus in Osteuropa begannen und andererseits der historische Kontext Chagalls sich seit seiner Emigration im Jahr 1941 in die USA geändert hatte. Die volle Tragweite der Shoah erfuhr er erst in den Nachkriegsjahren.
Die Ausstellung ist in fünf Themenkreise aufgeteilt. Der erste, „Welt in Gefahr“ übertitelt, befasst sich mit den Jahren ab 1931, als Antisemitismus und konkrete Judenverfolgung in ganz Europa zunehmen. Nach einer Reise in die britische Palästina wird sich Chagall dieser Tatsache immer mehr bewusst, und die Ausschreitungen im polnischen Wilna im Jahr 1935 bestätigen diese Sicht, von der Situation in Deutschland ganz zu schweigen. In dieser Zeit entsteht das die Ausstellung eröffnende Bild „Einsamkeit“, dass einen alten Juden mit an die Brust gedrückter Thora und leidvollem Gesichtsausdruck vor einer brennenden Stadt zeigt. Ein ahnungsvolles Bild! Weiterhin entstehen hier Bilder von osteuropäischen Synagogen und der Jerusalemer Klagemauer.
In „Heimat und Zuhause“ bilden die malerischen Erinnerungen an die weißrussische Heimat den Schwerpunkt. Immer wieder steht Chagalls Heimatstadt Witebsk Modell, und kleine geduckte Häuser vor weiten Landschaften und latent drohenden Kontexten prägen die Bilder.
Im Themenbereich „Flucht und Vertreibung“ stehen die Fluchtbewegungen der Juden aus Europa im Mittelpunkt, immer verbunden mit kriegerischen Kontexten. Hier erhält auch die Kreuzigung Christi eine völlig neue Bedeutung, denn Chagall stellt ihn unverkennbar als Juden das, der stellvertretend für all seine Glaubensgenossen den Märtyrertod erleidet. Die banale Tatsache, dass Jesus ein Jude war, wirkte auf die christlichen Kirchen natürlich wie eine Provokation, wenn sie so plakativ dargestellt wurde.
Das Gemälde „Engelsturz“ bildet einen singulären Ausstellungspunkt und symbolisiert den schreckerfüllten Absturz eines roten – brennenden? – Engels angesichts der irdischen Vertreibung, Verfolgung und Ermordung vor allem jüdischer Menschen. Gerade dieses Bild beschäftigte Chagall dermaßen, dass er es in verschiedenen Variationen während einer über zwanzigjährigen Bearbeitungszeit aufgrund neuer Ereignisse und Erfahrungen immer wieder erneuerte.
Die Bilder in diesen ersten drei Themenbereichen sind geprägt von düsteren Farbkombinationen, die wenig Hoffnung ausstrahlen. Dunkles Grün und Rot-Braun beherrschen viele dieser Bilder und verstärken damit deren inhaltlichen Aussagen.
Doch auch für weltlich-optimistische Themen war Chagall – besonders in den vierziger Jahren im US-Exil – empfänglich. So entwickelte er Bühnenbilder für die Ballette „Feuervogel“ und „Aleko“, die mit ihrer Leichtigkeit, ja: fast Fröhlichkeit beeindrucken. Nach dem Krieg wagte er dann wieder etwas Optimismus mit farbenfrohen und teilweise humoristischen Bildern, die in der Ausstellung unter dem Motto „Blick nach vorne – Blick zurück“ stehen.
Diese Ausstellung bietet einen sehr konzentrierten Blick auf eine bestimmte Phase des Malers und wertet diese durch den Verzicht auf das breite weitere Werk Chagalls auf. An dieser Ausstellung zeigt sich, dass es gerade bei Künstlern mit einer breiten, über Jahrzehnte reichenden Werkpalette besser ist, sich auf einen Teilbereich zu fokussieren, anstatt die Zuschauer mit einer Totalschau zu überfordern.
Die Ausstellung ist bis zum 19. Februar 2023 geöffnet. Näheres ist über die Webseite der Schirn zu erfahren.
Frank Raudszus
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