Vor zwei Jahren haben wir an dieser Stelle das Buch von Matthias Weichelt über Felix Hartlaub vorgestellt, der von 1941 bis 1945 im Führerhauptquartier und – anfangs – an anderen Orten die Entwicklung des zweiten Weltkriegs aus der Sicht der deutschen Führung dokumentiert hat. Jetzt hat ebenfalls der Suhrkamp-Verlag die Notizen veröffentlicht, die Felix Hartlaub sozusagen außerdienstlich zu den Ereignissen angefertigt hat. Diese Notizen lagen nur handschriftlich in rudimentärer Form vor und hätten einer vollständigen Überarbeitung bedurft. Da Hartlaub in den letzten Kriegstagen verschollen ist und später für tot erklärt wurde, erfolgte diese Verarbeitung nicht mehr. Glücklicherweise verzichtete sein Vater, zu dem Hartlaub bis zuletzt in engem, auch fachlich-intellektuellem Kontakt stand, darauf, die Notizen auf eigene Verantwortung zu literarisieren. So liegen sie denn mit allen ihren Auslassungen, Verkürzungen und sprachlichen Ungereimtheiten im Original vor, allerdings nicht nur textintern mit markierten Ergänzungen – zwecks Verständnis – sondern auch mit einem umfangreichen Anmerkungsteil, der den Kontext der oftmals nur hingeworfenen Halbsätze verständlich werden lässt.
Ab 1942 arbeitete Hartlaub im Führerhauptquartier „Werwolf“ im ukrainischen Winniza an der Erstellung des offiziellen Kriegstagebuchs mit. Später folgte er dem Hauptquartier nach Rastenburg zur „Wolfsschanze“ und dann weiter nach Westen, wo sich zuletzt die literarische Spur verlor.
Hartlaub befindet sich dabei als Schriftsteller zu dieser Zeit in einer schwierigen Situation. Private Notizen sind natürlich verboten, ob explizit oder implizit, sei hier dahingestellt. Sollte jemand seine privaten Aufzeichnungen denunzieren, wäre eine Kommandierung an die Ostfront noch die humanste Lösung. Dieser Tatsache eingedenk, beschränkt er sich in seinen Notizen personell auf sein unmittelbares Umfeld im Hauptquartier und vermeidet jedwede namentliche Erwähnung führender Personen, obwohl er an den regelmäßigen Lagebesprechungen teilnimmt und alle militärischen und politischen Größen bis hin zu Hitler selbst persönlich in Aktion erlebt.
Die ersten Notizen aus Winniza und später aus Rastenburg bilden noch die Realität ab und schildern den Alltag mit dem Küchenpersonal, dem mittleren Offizierskorps und vor allem den (jungen) Frauen, die hier unter anderem als Schreibkräfte arbeiten. Ausführlich reflektiert er seine erotischen Anflüge und mögliche Annäherungsversuche, wobei seine angeborene Zurückhaltung, ja: Unsicherheit laut Aussagen seines männlichen Umfelds eher als intellektueller Hochmut des promovierten Historikers gedeutet wird. Dabei entwirft er mit kurzen Sätze treffende Charakterstudien des Personals, vom einfachen, aber selbstbewussten oder bodenständigen Küchenbullen bis hin zum mittelalten Reserveoffizier, der hier einen frontfernen Dienstposten in höchsten Kreisen „genießt“ und auf lukrative Netzwerke nach dem – natürlich gewonnen – Krieg hofft.
Während Matthias Weichelts Buch deutlich Hartlaubs neutrale, weder widerständige noch explizit linientreue Einstellung hervorhebt, liest sich das im Original doch etwas anders. Gerne kritisiert Hartlaub – vorsichtig – die höheren Militärs als realitätsfern oder rückgratlos, aber gegenüber dem „Führer“ äußert er sich geradezu anbetend, so wenn er dessen unermüdlichen Einsatz und Verantwortungswillen für das deutsche Volk, seine Übersicht über die militärischen Ereignisse und seine Weitsicht hervorhebt. Und das lässt sich keinesfalls als – feine oder grobe – Ironie verstehen, was sowieso besonders gefährlich wäre. Gerade im Führerhauptquartier befand er sich mit dieser Einstellung sozusagen im Sog des allgemeinen Denkens, aber ein neutraler Beobachter war er damit durchaus nicht. Den 20. Juli erlebt er in Rastenburg und hört auch den Knall, den er erst für eine Schießübung hält. In seinen Notizen bezeichnet er die Widerständler als tragisch Verirrte und lässt seine Erleichterung über das Überleben des Führers durchblicken.
Mit der sich verschlechternden Lage werden auch Hartlaubs Notizen kritischer oder, besser gesagt, resignativer. Jetzt geht er auch zu einer mehr literarischen, nicht mehr auf unmittelbare Schilderung von Handlungen und Personen ausgehenden Schreibweise über. Sich selbst schildert er grundsätzlich in der dritten Person, mal als „Hauptmann Dr.“, wobei hier die Identität mit ihm selbst fraglich bleibt, mal als „Schr.“ wie Schreiber. Mehr und mehr wird die seelisch-geistige Befindlichkeit zum Thema, die sich mit wachsender Erkenntnis der sich verschlechternden militärischen Lage in Sarkasmus, Resignation und Fatalismus niederschlägt. Dabei wählt er den zunehmenden Alkoholismus seines Protagonisten als Metapher für den Zustand des gesamten Hauptquartiers und letztlich der Nation. Doch auf politische Ausflüge verzichtet er auch in diesen letzten literarischen Notizen – man möchte fast sagen: Novelle – konsequent, ob aus Eigenschutz oder aus Überzeugung, bleibt offen. Seine unbestrittene Intelligenz und seine Einsicht in die Abläufe lassen keine Zweifel an dem bevorstehenden Ende zu. Deshalb nennt er die Zugfahrt von Rastenburg in den Westen Ende 1944 auch „Zug in den Abgrund“ und reichert dieses Bild durch seine metaphorisch zu verstehenden Handlungselemente deutlich an.
Wenn auch der Titel „Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier“ dahingehend irreführend ist, dass diese Aufzeichnungen keinerlei inhaltliche Schilderungen der Lagebesprechungen sondern nur Charakterstudien enthalten, vermittelt das Buch doch einen guten Eindruck von der Stimmung dieser sich selbst genügenden und bespiegelnden Enklave.
Das Buch ist im der reihe „Bibliothek Suhrkamp“ erschienen, umfasst 191 Seiten und kostet 23 Euro.
Frank Raudszus
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