Das klassische Ballett erzählte in seinen Choreographien abendfüllende, in sich geschlossene Geschichten vor, das heißt, es war im eigentlichen Sinne getanztes Theater oder „Tanz-Theater“. Das heutige TanzTheater dagegen reduziert diese erzählerische Komponente konsequent und betont existenzielle Situationen und Emotionen. Da man eine solche Darstellung selten ohne Längen auf abendfüllende Länge ausdehnen kann, besteht ein Großteil der Programme aus zwei unabhängigen Choreographien. Da ist es natürlich wichtig, auch ohne eine durchgehende Geschichte eine Beziehung zwischen den beiden Choreographien zu entwickeln, die zu einer gegenseitigen Ergänzung oder auch Kontrastierung führen.
Dem Hessischen Staatsballett gelingt dies mit der neuen Produktion „V/ertigo“ auf eindringliche Weise. Die Intensität erlebter Welt ist konstitutiver Bestandteil sowohl der Choreographie „Skid“ von Damien Jalet als auch des Werkes „I´m afraid to forget your smile“ von Imre & Marne van Opstal.
„Skid“, zu Deutsch „Rutschen“, beginnt spektakulär. Wenn sich der Vorhang des Gro0en Hauses in Darmstadt hebt, rutscht eine graue Plane von einer bühnengroßen weißen Rampe, die sich nach hinten in den Bühnenraum erhebt. Einige Augenblicke bleibt dieses Monument still im Raume stehen, dann dreht sich im gleißenden Bühnenlicht ein Körper langsam über die Kante und begibt sich langsam auf die Reise nach unten. Dieser „Vorreiter“ erprobt sozusagen die gefährliche, noch unbekannte Schräge, lässt sich zentimeterweise hinabrutschen, entwickelt ein Gefühl für die Schräge, wird mutiger und damit schneller, und die letzten Meter absolviert er mit geradezu todesmutig anmutendem Schwung hinab in den Orchestergraben. Derweil haben sich schon die nächsten Körper über die Kante geschoben und folgen ihrem Vorgänger, nun schon ein wenig beherzter. Der Begriff der Schwerkraft und ihr unerbittlicher Abwärtssog werden hier tänzerisch, oder besser: körpersprachlich, umgesetzt. Mit zunehmendem Selbstvertrauen und abnehmender Furcht vor eben dieser Schwerkraft werden die Akteure mutiger und auch frecher. Man dreht sich jetzt während des Rutschens, geht auf die Knie oder alle Viere und nimmt alle möglichen Positionen an, doch alles mit dem steten Zug nach unten. Dann kommen Zweier- und Dreierkombinationen ins Spiel, scheinbar kleine Kollisionen und versehen, die dann zu kunstvollen Verzahnungen der gleitenden Körper führen. Dazu ertönt die suggestive Musik von Christian Fennesz, die dem entropischen Abwärtsgleiten etwas Unabänderliches, Schicksalhaftes verleiht. Man spürt förmlich das Ausgeliefertsein des Menschen gegenüber der Gravitation.
Dann ein plötzlicher Buch, Stille und wieder eine einsam leuchtende Rampe. Dann quellen unten aus dem Orchestergraben die Tänzer und Tänzerinnen in breiter Front und uniformartigen Anzügen hervor und suchen den Weg nach oben. Nach dem hedonistischen, fast fatalistischen Abgleitens des Menschens in den Abgrund folgt nun der komplementäre Versuch des Ausbruchs, des Neubeginns und des Gestaltens. In disziplinierten Formationen marschiert das Ensemble zu einer maschinenartigen Musik nach oben. Dabei bildet es V-Formationen in beiden Richtungen oder ähnliche künstliche Muster, damit den menschlichen Drang verkörpernd, Struktur in eine von Grund aus chaotische Welt zu bringen. Die Assoziation an militärische Vorbilder wird wohl bewusst hervorgerufen, da der Kampf im weitesten Sinne wohl eines der wesentlichen menschlichen Merkmale ist. Auch dieser Teil der Choreographie endet ohne eine abschließende Pointe oder gar „Moral“, denn trotz der Assoziationen allzu menschlichen Fallenlassens und Aufbegehrens will diese Produktion keine moralisierende Geschichte erzählen.
Die Choreographie „I´m afraid to forget your smile“ lässt sich als Ergänzung im Sinne einer spirituellen Deutung des Menschseins deuten. Mitglieder des Opernchors sitzen in einer L-förmigen Konfiguration an Seiten- und Rückwand der Bühne, und vor ihnen liegen fünf Körper auf dem Bühnenboden. Der Chor singt „a capella“ zeitgenössische Kompositionen, u.a. von Avo Pärt, die jedoch für der Chormusik weniger kundiger Zuhörer wie mittelalterliche Sakralmusik wirken. Zu dieser einerseits entrückten, andererseits in Trance versetzenden Musik tanzen die drei Tänzer und Tänzerinnen in fleischfarbenen Kostümen ihre langsamen und daher umso intensiveren Figuren, mal allein, mal zweit oder zu dritt in immer neuen Kombinationen. In Kombination mit der Musik entwickelt sich daraus ein sakrales Tanzfest, vergleichbar nur mit Strawinskys „Sacre du Printemps“, nur strenger, kontrollierter und mit gebündelten Emotionen.
Die tänzerischen Abläufe erzählen keine Geschichte oder wecken auch nur konkrete Assoziationen, sondern bringen jeweils unmittelbar Emotionen und Anspannungen zum Ausdruck. Dazu gehört auch das Verhältnis der Geschlechter, jedoch ohne vordergründigen Verweis auf Erotik. In ihrer Absolutheit erinnern diese Tanzfiguren jedoch an existenzielle menschliche Emotionen, als da sind Not, Gefahr, Liebe und Tod. Die Kunst dabei ist, diese Assoziationen ohne deutliche Hinweise nur aus der Körpersprache zu entwickeln. Dabei hilft natürlich der Gesang des Chors, der genau diese tranceartige, sakrale Atmosphäre schafft, in der die Tanzfiguren des Ensembles zu ihrer jeweiligen Bedeutung aufblühen.
Das Publikum im offensichtlich ausverkauften Großen Haus zeigte sich begeistert und spendete begeisterten Beifall.
Frank Raudszus
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