Die Suche nach dem Begriff „Verführung“ im Netz bringt unter anderem die Synonyme „Reiz, Versuchung, Anziehung, Unwiderstehlichkeit, Verlockung, Verzauberung, Betörung, Bann“ zu Tage. Genau das trifft auf die Premiere von Mozarts Oper „Don Giovanni“ im am Staatstheater Darmstadt zu, wobei man die Versuchung natürlich weit auslegen muss. Intendant Karsten Wiegand ist mit dieser „Eigeninszenierung“ tatsächlich ein Wurf gelungen, den man gern als Maßstab für die kommenden Opern der Saison setzen würde.
Das von Wiegand selbst verantwortete Bühnenbild ist „High Tech“ und puristisch zugleich. Nicht mehr als ein breites, beleuchtetes Bett mit weißer Bettwäsche an der Bühnenrückwand und ein Stuhl vorne zieren zu Beginn die Bühne. Die Metaphorik des Bettes erklärt sich bei dieser Oper von selbst, der Stuhl jedoch entwickelt wegen seiner geradezu penetranten Einsamkeit im Raum eine ganz eigene, rätselhafte Metaphorik. Das ändert auch die Tatsache nicht, dass in ihm der Komtur seinen Geist aufgibt und sich später Don Giovanni auf ihn setzt. Ein schlichter weißer Wandrahmen mit zwei Türdurchbrüchen senkt sich bei Bedarf auf die Bühne und wird durch bühnengroße Videos zur statischen oder bewegten Kulisse. Dabei spiegeln diese Videos, die auch mal auf der Rückwand der Bühne oder auf einem Gaze-Vorhang an der Rampe ablaufen, nicht etwa übliche Accessoires einer Behausung, sondern die emotionale Situation der Figuren wider, die man dem singenden Ensemble aufgrund der Entfernung und des gesanglichen Kontextes nicht in gleichem Ausmaß entnehmen kann.
Leporello (Georg Festl), der in der ersten Szene sein Leid mit dem liederlichen Lebenswandel seines Herrn Don Giovanni klagt, steht schon während der vom Orchester unter Daniel Cohen drohend-düster intonierten Ouvertüre vorne an der Rampe und schaut skeptisch ins Publikum. Wiegand schiebt den Diener damit in gewisser Weise vor seinen Herrn und lässt letzteren sein delikates Abenteuer – wohl eher eine versuchte Vergewaltigung – mit Donna Anna im „Off“ ablaufen. Erst der sterbende Komtur (Zelotes Edmund Toliver) und in seinem Gefolge der Mörder Don Giovanni beleben dann die Bühne.
Doch diese ist während der erotischen Ereignisse im „Off“ nicht unbelebt, sondern präsentiert auf ihrer Rückwand deren tänzerische Umsetzung durch Mitglieder des Hessischen Staatsballetts, bei der sich Erotik und Gewalt auf allegorische Weise vermengen. Man denkt spontan an die Laokoon-Gruppe.
Bei der jetzt ablaufenden Handlung, deren Kenntnis wir voraussetzen, verzichtet Wiegand auf jegliche aufgesetzte Aktualisierung. Die Geschichte spielt in einer ansatzweise zeitlosen Umgebung, wobei die Kostüme zwar an Mozarts Zeit erinnern, aber nicht historisierend wirken. Don Giovanni kommt im schwingenden, ledernen(?) Umhang des Lebemannes und offenen Hemd daher, Leporello in simpler Bauernkleidung. Donna Elvira und Donna Anna tragen zeitlose Kleider in starken Farben, der Chor erscheint zum Teil in bewusst grotesken Aufmachungen, die als Sinnbild einer in Konventionen erstarrten Gesellschaft dienen können, aber auch als reine Komik gedeutet werden dürfen.
Im Mittelpunkt dieser Inszenierung stehen die Charaktere der verschiedenen Protagonisten, die hier durchaus als Archetypen agieren, ohne deshalb in Klischees zu verfallen. Das ist angesichts des von vielen Stereotypen bevölkerten Themas – der Verführer und die Verführten – nicht einfach, aber Regie und Ensemble schaffen es, den einzelnen Figuren ein je eigenes und doch aussagestarkes Wesen zu verleihen. Sowohl Männer als auch Frauen werden hier gründlich durchleuchtet. Der gerne als Bösewicht gehandelte Don Giovanni (Julian Orlishausen) zeigt sich hier zwar als ich-bezogener Hedonist, der auf die üblichen Konventionen der Gesellschaft pfeift, der aber deswegen nie bösartig oder gar zynisch wirkt. Bei aller Verachtung der bürgerlichen Moralvorstellung verfügt er doch über einen eigenen Humor, der ihm auch über schwierige Augenblicke hinweghilft. Und die Niederlage am Schluss erduldet er mit einer gewissen Grandezza, ohne zu jammern. Das ist natürlich keine Erfindung dieser Inszenierung, sondern steckt schon in Mozarts bzw. da Pontes Werk, aber Regie und Sänger setzen diese „Rehabilitierung“ des notorischen Verführers und Totschlägers präzise um. Damit relativieren sich auch in gewisser Weise die bürgerlichen Konventionen, die Don Giovanni permanent missachtet. Das Subjekt feiert hier seinen Triumph auf hohem Risikoniveau und bezahlt die überzogene Selbstverwirklichung mit dem Leben.
Als Gegenpart spielt David Lee den Don Ottavio als linkischen und ängstlichen Opportunisten, der im Unglück seiner Braut Dona Anna nur sein eigenes Unglück sieht und nicht wagt, dem großen Verführer wirklich entgegenzutreten. Auch dies natürlich Teil des Librettos und in der Musik verkörpert, aber hier überzeugend umgesetzt.
Die Frauen waren Mozart ein besonderes Anliegen. Alle drei von Don Giovanni umworbenen Frauen – Donna Elvira, Dona Anna und Zerlina – sind ihm verfallen. Elvira verfolgt ihn zwar mit ihren Rachegelüsten, doch die kämpfen in derselben Brust mit dem Wunsch, ihn zurückzuholen. Das zeigt Solgerd Isalv in ihrer Doppelrolle als Sängerin und Schauspielerin im Video überzeugend. Passend zu dem von ihr auf der Bühne gesungenen Text changieren ihre Mimik und Körpersprache auf dem übergroßen Portrait im Video-Hintergrund zwischen wütender Rachelust und Sehnsucht. Ähnliches gilt für Donna Anna, die zwar Don Ottavio zur Rache auffordert, aber im tiefsten Herzen wohl hofft, dass Don Giovanni im Zweikampf siegen werde. Diese Ambivalenz kommt weniger in den Texten als in dem sängerischen Ausdruck und in der Körpersprache zum Ausdruck. Fast überflüssig festzustellen, dass dasselbe auch für Zerlina gilt, die bis zum Schluss zwischen dem galanten Herrn und ihrem braven Masetto schwankt.
Dieses mehr als bloße Erotik spiegelnde Spiel zwischen den Geschlechtern führt das Ensemble auf so eindringliche wie hintergründige Weise auf. Keine Effekthascherei und keine überdeutlichen Hinweise, dass es auch der Letzte versteht, sondern kleine Verzögerungen, Seufzer und Blicke. Wenn dann im zweiten Teil bei dem großen Fest die betrogenen Frauen zusammen mit Don Ottavio auf Rache sinnen, treten sie in grotesken Kostümen mit weißen Ballettröcken auf. Die Farbkombination Blau, Weiß, Rot entspricht der der Trikolore und verweist damit auf die bevorstehende Revolution. Dazu laufen eben diese personenreichen Szenen zusätzlich als Echtzeit-Video auf einem Gaze-Vorhang vor der Bühne ab, auf diese Weise die Handlung noch einmal verdoppelnd und gleichzeitig als psychologisches Vexierspiel deutend.
Das Ende naht dann als großes Abendmahl, aber nicht zu zweit, sondern mit zwölf explizit benamten Aposteln, unter ihnen der Komtur, und einem freien Platz in der Mitte. Auch hier gibt die Regie die Assoziationen frei, ohne sie zu erzwingen. Da auf das christliche Original-Abendmahl der Tod der zentralen Figur folgte, bieten sich Parallelen an, über die man nachdenken kann. Auch hier ändert die Regie nicht die Abläufe, sondern verleiht ihnen nur einen neuen Kontext. Überzeugte Christen mögen hier Blasphemie wittern, aber das gehört auf jeden Fall noch zur Kunstfreiheit.
Bis zum Ende besticht diese Inszenierung durch ihre Leichtigkeit und Zielstrebigkeit. Die sichere Personenzeichnung und der Verzicht auf jeglichen ideologischen Überbau lässt die Struktur dieses Werkes und damit die zeitlose Aussage mehr als deutlich zutage treten. Dass dabei noch beste Unterhaltung geboten wurde, rundet die Aufführung mehr als erfolgreich ab.
Die gesanglichen Leistungen überzeugen durchweg. Allen voran ist hier Solgerd Isalv mit ihrer ausgesprochen präsenten, in allen Lagen souveränen Stimme zu nennen. Megan Marie Hart steht ihr als eine emotional ebenso aufgeladene, aber im Ton etwas weichere Dona Anna nicht nach. Auch Juliana Zara meistert die zu Unrecht oft als Nebenrolle abgewertete Figur der Zerlina stimmlich und darstellerisch überzeugend und beherrscht eine Zeitlang die Bühne. Bei den Sängern ist vor allem Julian Orlishausen zu nennen, der nicht nur einen raumgreifenden, in jeder Szene präsenten und seine Signatur hinterlassenden Don Giovanni gibt, sondern auch stimmlich auf der Höhe ist. Georg Ferstl spielt den Leporello ein wenig gegen den üblichen Strich, indem er ihn nicht als den das Publikum zum Lachen bringenden Spaßvogel gibt, sondern als denkenden Menschen, der sich seiner untergeordneten Position bewusst ist und innerlich dagegen rebelliert. Der Humor kommt dabei dennoch nicht zu kurz. Bleibt noch Eric Ander als durchaus nicht bäuerlich-biederer Masetto zu nennen, der zusammen mit Zerlina-Zara die Szenen um das junge Brautpaar lebendig gestaltet.
Daniel Cohen liefert dazu aus dem Graben eine leichte, federnde Musik, die dem Bühnengeschehen aufmerksam folgt und in jeder Phase die Intonation gekonnt an die Handlung anpasste. Keine gesangliche Darbietung wird vom Orchesterklang überboten, doch wo nötig, setzt sich das Orchester kraftvoll durch.
Das Publikum zeigte sich – schon durch viel Zwischenapplaus – begeistert und spendete kräftigen, lang anhaltenden Beifall. Die wenigen „Buh“-Rufe aus dem Rückrufe beim Auftritt des Regieteams waren nicht ganz nachvollziehbar.
Frank Raudszus
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