Häuser sind langlebige Objekte mit je eigenen Geschichten ihrer Bewohner, die jedoch selten an der Fassade ablesbar sind. Nur schwer geben sie diese Erinnerungen frei, und meist auch nur, wenn Menschen sie ihnen bewusst entringen. Dieses Bild setzt die israelische Autorin Maya Arad Yasur anhand eines Wohnhauses in der Amsterdamer Keizersgracht in dem Stück „Amsterdam“ in Szene. Der Ort der Handlung ist jedoch insofern fiktiv, als hier zu der besagten Zeit weder die erwähnten Personen gelebt noch die geschilderten Ereignisse abgespielt haben. Diese stellen vielmehr einen fiktionalen Zusammenschnitt der Judenverfolgung in den Niederlanden während des Zweiten Weltkriegs einschließlich der Geschichte der Anne Frank und ihrer Familie dar, obwohl deren Namen nicht einmal genannt werden.
Das Stück beginnt in eben diesem Haus mit dem frühen Morgen einer Wohngemeinschaft. Die fünf namenlosen Bewohner – zwei Männer (Béla Milan Uhrlau und Chris-Pascal Englund-Braun) sowie drei Frauen (Naffie Janha, Anabel Möbius und Mariann Yar) – werden bei belanglosen Tätigkeiten langsam wach. Ihre einheitlichen langen Überwurfhemden erinnern ferne an Anstaltskleidung, die jedoch erst im Laufe der Geschichte drastische Assoziationen wecken wird. Die einzelnen Tätigkeiten und Ereignisse des Alltags notieren sie mit rezitationsartigen Beschreibungen, die erst einzeln und dann in einem versetzten Chor vorgetragen werden. Durch diese statuarische Spielweise, die ein wenig an den Chor des antiken Theaters erinnert, gewinnen die Elemente des Alltags von Beginn an eine fragile bis bedrohliche Bedeutung.
Ein Brief in der täglichen Post wandert von Hand zu Hand und wird auf die beschriebene vielstimmige Weise vorab auf Inhalt und Bedeutung abgeklopft. Statt ihn jedoch einfach zu öffnen und vorzulesen, erheben ihn die WG-Mitglieder durch ihre nur scheinbar banalen chorischen Bemerkungen auf eine existenzielle Höhe. Der schließlich enthüllte Inhalt weist ihn als Gasrechnung auf, die offensichtlich keinen Zahler gefunden hat. Dabei schält sich langsam die Erkenntnis heraus, dass diese Rechnung aus der Vergangenheit des Hauses stammen muss, und dass ihr Gegenstand mit der Geschichte des Hauses, des Landes und der (europäischen) Welt zu tun hat. Diese Gasrechnung wird dabei ein fürchterliche metaphorische Wirkung erzielen.
Aus dieser Gasrechnung entwickelt das Ensemble auf chorischen Weise eine Schilderung der Ereignisse in diesem Haus, wo mutige Widerständler während des Zweiten Weltkrieges jüdische Familien versteckten, die wiederum ausgerechnet von Widerständler verraten wurden. Ähnliches wird im Fall Anne Frank vermutet, ist aber nicht erwiesen. Daher vermischt die Autorin verschiedene reale Fälle zu einer Fiktion, die dennoch die damalige Realität in all ihrem Schrecken überzeugend nachbildet.
Man hat die Grausamkeiten der Deutschen im Dritten Reich vor allem den Juden gegenüber bereits in unzähligen Büchern und Bühnenwerken beschrieben und damit das Potential moralischer Positionierung erschöpft. Damit wirkt eine moralische Verurteilung dieser Schreckensherrschaft heute in gewisser redundant und in ihrer Selbstverständlichkeit geradezu tautologisch. Nur noch die distanzierte, künstlerisch verfremdete Darstellung kann den Ereignissen ihre im wahrsten Sinne des Wortes unmenschliche Bedeutung verleihen. Dabei entwickelt die Regie von Julia Prechsl mit den sich langsam bis zur Verzweiflung steigernden Wortkaskaden des Ensembles eine erstaunliche Kraft und Authentizität. Nie wird eine den Geschehnissen nicht mehr angemessene moralische Verurteilung im herkömmlichen Sinn geäußert, sondern vielmehr eine geradezu existenzielle Verzweiflung der vortragenden Stimmen darüber, was Menschen ihresgleichen antun können. Das Ensemble verstärkt die Wirkung der Worte noch durch eine so variable wie kontrollierte Körpersprache, die anstelle vordergründiger Sentimentalität elementare Erschütterung zum Ausdruck bringt. Diese wird noch verstärkt durch eine Hintergrundmusik, die anfangs die nahende Katastrophe durch lauernde Spannungsbögen ankündigt, um sich später zu immer dichter drängenden Dissonanzen zu steigern.
Das Ensemble auf der Bühne durchläuft alle Stadien starker Emotionen von Ungläubigkeit über Entsetzen zu reiner Wut, die sich teilweise durch die hohe Anspannung auch in Spannungen zwischen den Figuren ausdrückt. Besonders die drei Darstellerinnen zeigen dabei darstellerische Höchstleistungen, die dem Publikum noch lange im Gedächtnis bleiben werden.
Frank Raudszus
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