Dynamische Beliebigkeit

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Das im Programmheft wiedergegebene Gespräch mit der Choreographin Nadia Beugré nimmt explizit Bezug auf die Gestalt Don Giovannis und die dazugehörigen Begriffe Verführung und Machtausübung. Zwar kannte Beugré eigenen Aussagen zufolge den Stoff gar nicht, aber das muss nicht unbedingt ein Nachteil bei der Gestaltung einer entsprechenden Choreographie sein. Als Zuschauer misst man eine Produktion jedoch an solchen Aussagen, und das Ergebnis dieses Vergleiches lässt viele Fragen offen.

Das Ensemble setzt sich weitgehend aus Tänzern und Tänzerinnen aus verschiedenen afrikanischen Ländern zusammen, um bewusst das eurozentrische Selbstverständnis des – europäischen – Tanztheaters zu unterlaufen oder gar zu konterkarieren. Auch diese Zielsetzung ist dem Programmheft zu entnehmen. Die Live-Musik zu dieser Produktion kommt von drei französischen Musikern mit Keyboard, Schlagzeug, Saxophon und Gesang.

Ensemble

Ein besonderer Gag dieser Choreographie besteht in der Verlagerung der Zuschauertribünen auf den Rückraum der Bühne. Da eine ausreichend große Zuschauerzahl möglich sein soll, erheben sich die Sitzreihen hinter der Tanzfläche zu einem eigenen Block, ähnlich der normalen Anordnung, nur eben auf der anderen Seite. Die ersten Reihen haben einen etwas besseren Blick auf das Geschehen als vor dem Graben, aber aufgrund der Weite der Spielfläche entsteht nicht unbedingt eine größere Nähe oder gar Intimität zwischen dem tänzerischen Geschehen auf der Bühne und dem Publikum.

Wenn das Ensemble die Bühne betritt, tut es dies mit Beifall einfordernden Gesten, die durchaus beim Publikum ankommen. Dann stellt sich die Truppe am vorderen, nun hinteren Bühnenrand auf und beginnt erst einmal zu zucken und zu zicken. Offenbar will der Anführer der Gruppe eine letzte Probe durchführen, was dem Ensemble nicht passt. Dann jedoch stellen sich die Tänzer und Tänzerinnen in Reihe zum Publikum auf und üben gemeinsam einzelne Schritte.

Diese selbstironische und augenzwinkernde Einleitung hat durchaus einigen Witz und lässt den Beginn leicht und locker erscheinen. Dann beginnt die etwa einstündige Choreographie, in der man von Beginn an leider vergeblich nach Hinweisen auf Don Giovanni zu suchen beginnt.

Kämpfender Tänzer

Doch lassen wir erst die positiven Eindrücke Revue passieren. Die Produktion zeichnet sich durch ausgeprägte Dynamik und Lebendigkeit aus. Außerdem brechen immer wieder spontaner Witz und Heiterkeit durch, selbst wenn negative Charaktereigenschaften ausgetanzt werden. Die tänzerische Energie der Truppe ist unübersehbar und auch unüberhörbar. Denn im Gegensatz zum ungeschriebenen Gesetz der Stimmlosigkeit des Tanzes – abgesehen von der externen Musik – wird hier auch kräftig die Stimme eingesetzt, wenn auch nur von ausgewählten Mitgliedern. Da diese stimmlichen Einlagen jedoch nicht künstlerisch-gesanglicher Art sind, sondern Worte und Sätze wiedergeben, besteht das Problem der Verständlichkeit, denn die Worte sprudeln in einem Gemisch aus lokalen Dialekten und französischer Sprache heraus. Man kann dem Gang der Choreographie zwar auch ohne das Verständnis der Worte folgen, aber eventuelle explizite Bedeutungen sind nicht nachvollziehbar.

Der akustische Aspekt hat noch andere Seiten. Die Musik beginnt mit einer Mischung aus afrikanischem Sound mit an Bach erinnernder Begleitung und anfänglich eher somnambulem Charakter. Dann steigern sich Dynamik und Intensität stetig bis hin zu technoartiger Lautstärke, was zur Folge hatte, dass sich einzelne, wohl lautempfindliche Zuschauer in der ersten Reihe die Ohren zuhielten.

Dieser sich langsam entwickelnden Dynamik der Musik folgt das tänzerische Geschehen. Liegt zu Beginn eine einzelne Tänzerin auf der Bühne und lässt langsam ein Bein in der Luft kreisen, so füllt jetzt die gesamte Truppe die Bühne und steigert Tempo und Körpersprache zunehmend.

Das eurozentrische Tanztheater erzählt stets Geschichten, wenn nicht nacherzählte wie „Schwanensee“ oder „Dornröschen“, dann eigene, nur durch tänzerische Bewegungen und Körpersprache ausgedrückte. Der Gattungsbegriff „Tanztheater“ bringt dies deutlich zum Ausdruck. Die vorliegende Choreographie tut dies jedoch in viel geringerem, wenn nicht gar fehlendem Maße. Die tänzerischen Bewegungen kreisen vielmehr um den einzelnen Körper, und gemeinsame Figuren sind eher gleichförmig verlaufende Bewegungen aufeinander zum, voneinander weg oder umeinander herum anstatt dass eine psychologische oder gesellschaftliche Situation heraufbeschworen wird. Den Verweis auf Don Giovanni im Kopf, wartet man auf die schleichende Annäherung, die Umgarnung, Manipulation – eben: Verführung, doch diese Geschichte wird so nicht erzählt.

Zweikampf

Da gibt es den exzessiven Solotanz eines Tänzers, dann den getanzten Zweikampf zwischen zwei – erotischen? – Rivalen. An anderer Stelle stehen sich zwei oder drei Tänzer oder Tänzerinnen wie kämpfende Reptilien auf allen Vieren gegenüber und zucken aufeinander zu. Dann wieder umarmt sich ein Paar ausgiebig ohne große verführerische Vorbereitung und wird anschließend mit einem Regen aus Blumenblüten über die Bühne geleitet. Überhaupt spielen die Blumen eine große Rolle. immer wieder werden Blumensträuße zusammengebunden, einander überreicht, wieder auseinandergepflückt und den Mittänzern über die Köpfe gestreut. Das wirkt aber eher wie friedliches Kinderspiel denn wie eine raffinierte Verführung.

Zum Ende hin wird die Musik immer lauter und psychedelischer, so dass sich auf der Bühne eine Art Trancetanz entwickelt. Ein wenig fühlt sich das an wie in einer Techno-Disco der neunziger Jahre. Unter den Tanzenden entwickelt sich eine allgemeine Versöhnung, man bewegt sich in loser Formation gemeinsam, Blumen streuend, über die Bühne, und eine letzte Tänzerin fegt in einer Art Aufwasch die Blumen auf der Bühne zusammen. Ende gut, alles gut!

Trotz ihrer Dynamik und Lebendigkeit dreht sich diese Choreographie in ihrer inhaltlichen Beliebigkeit auf der Stelle. Am ehesten könnte man dahinter noch die kulturelle Eigenart der quasi-religiösen Trance sehen, die keine Bedeutung benötigt und sich reiner Selbstzweck ist. Das ist jedoch für die eurozentrische Sicht, die ja auch eine tatsächliche und in sich nachvollziehbare ist, nicht ausreichend. Doch die Sicht auf andere Lebensgefühle und ihre tänzerische Umsetzung ist auf jeden Fall lehrreich und erweitert das eigene Weltverständnis.

Das Publikum dankte dem Ensemble mit kräftigem Beifall.

Frank Raudszus

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