Der Wiener Klassik, die den Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen durch die Aufklärung in der Reihenfolge Haydn, Mozart und Beethoven feierte, ging über in die Romantik, die sich aus Enttäuschung über den Rückschlag der Restauration dem grenzenlosen Gefühl hingab. Doch diese war statt mit einer Rückkehr zur vermeintlich seligmachenden Natürlichkeit mit einer brutalen Industrialisierung konfrontiert, für die sie keine musikalische Form fand. Stattdessen ging es nach den noch klassikaffinen Schubert und Schumann mit Wagner und Brahms, um nur zwei zu nennen, geradewegs in die Spätromantik, die den klanglichen Rausch geradezu zum Selbstzweck machte, aber keine Tonsprache für die neue Wirklichkeit finden konnte. Anfang des 20. Jahrhunderts hing die Spätromantik wie eine überreife Frucht an den Ästen des musikalischen Baumes und wartete auf das leichte Schütteln eines Webern oder Schönberg, um herunterzufallen.
Genau diese Zeit der späten Reife hatte das Orchester des Staatstheaters Darmstadt als Hintergrund des ersten Sinfoniekonzerts der neuen Saison gewählt. Mit der Afroamerikanerin Florence Beatrice Price, dem Finnen Jean Sibelius und dem Tschechen Antonín Dvorák standen drei Komponisten auf dem Programm, die das musikalische Leben der Jahrhundertwende prägten, wobei die Amerikanerin noch etwas jünger war und erst in den fünfziger Jahren starb. Die Taiwanesische Geigerin und Dirigentin Mein-Ann Chen übernahm die Leitung des Programms.
Der Abend begann mit der Konzertouvertüre Nr. 2 von Florence Price, die sie 1943 komponierte. Trotz dieser späten Entstehungszeit verströmt die Musik vollständig den breiten, getragenen Klang der Jahrhundertwende. Man sieht daran, wie stark die USA zu der Zeit kulturell und speziell musikalisch vom europäischen Erbe geprägt war, sozusagen mit einer gewissen Zeitverzögerung. Der Ouvertüre liegen drei Gospels zugrunde: „Go down Moses“, Nobody knows the trouble I´ve seen“ sowie „Every time I feel the spirit“. Dabei sind die ersten beiden bekanntlich vom Leid der Sklaven geprägt, während das letztere dagegen Freude und Optimismus verströmt.
Florence Price hat diese drei Themen in mehreren Durchgängen in der erwähnten Reihenfolge verarbeitet. Breit und getragen fließen die ersten beiden Themen dahin, in weit gefächerte und gleichzeitig dichte Klanghüllen verpackt. Dabei nutzt sie alle Möglichkeiten eines großen Orchesters, vor allem das Spiel von Frage und Antwort, das sie mit verschiedenen Instrumentengruppen konsequent spielt. Dabei verbindet sie die verschiedenen Instrumentengruppen auf vielfältige Art miteinander, so dass ein ausgesprochen weiter Klangraum entsteht, der immer wieder an die europäische Musik der Jahrhundertwende um 1900 erinnert. Mei-Ann Chen zeigte schon bei diesem ersten Stück ihre Leidenschaft, die sich in einer extensiven Körpersprache ausdrückte und das Orchester buchstäblich mitriss.
Höhepunkt des Abends war das Violinkonzert in d-Moll von Jean Sibelius, dass dieser zwischen 1903 und 1905 mehrere Male umarbeitete, bis neben dem Publikum auch die Kritiker zufrieden waren. Die armenische Geigerin Diana Adamyan stand für diesen Part auf der Bühne des Staatstheaters Darmstadt.
Man könnte dieses Konzert auch als dreisätzige Sinfonie mit obligater erster Geige bezeichnen, weil das Orchester hier einen zumindest gleichwertigen Part spielt und sich die Geige oft gegen den Orchesterklang durchsetzen muss. Zu Beginn jedoch darf die Violine noch auf melancholische Weise allein das Feld bestellen, bis dann das Orchester einsetzt und einen längeren Part ganz alleine mit einem wahren Klangrausch ausfüllt. Nach einem längeren Wechselspiel zwischen Violine und Orchester folgt dann eine ausgedehnte Solo-Kadenz der Violine, die der Solistin alle Möglichkeiten gibt, ihr technisches uns musikalisches Können zu beweisen. Diana Adamyan zeigte bei ihrem Vortrag eine derartige Präsenz und Interpretationskunst, dass sie nach dem kurz darauf folgenden Schuss des ersten Satzes spontan Szenenbeifall erhielt.
Auch der zweite Satz, ein „Adagio di molto“, beginnt, nach einem von den Bläsern vorgetragenen Motiv, mit einem nur zart begleiteten Solo der Violine. Bei solchen langsamen Passagen zeigt sich in besonderem Maße, wie ein Solist die Spannung aufrecht erhalten kann, denn das musikalische Material selbst bietet die Spannung nicht in Form von Tempo oder Dynamik. Diana Adamyan erzeugte diese Spannung jedoch vom ersten Moment und hielt sie auch über die verschiedenen – teilweise machtvollen – Einwürfe des Orchesters. Sie ließ damit noch einmal die hohe Zeit der spätromantischen Solo-Kunst des frühen 20. Jahrhunderts aufblühen, und Mei-Ann Chen folgte ihr mit einem so konzentrierten wie präzisen Mitspiel – man möchte hier nicht von „Begleitung“ reden – des Orchesters.
Der dritte Satz setzt mit marschartigen Rhythmen ein, die sich bald ins Tänzerische wenden, wobei zunehmend eine raffiniert versetzte Rhythmik einsetzt. Hier dürfen beide, Violine und Orchester, noch einmal das je eigene Können in Bezug auf Dynamik, Rhythmik und Tempo zeigen. Diana Adamyan bewies auch hier ihre internationale Reputation mit einem präsenten und dennoch nie überzogenen Spiel. Auch in orchestral dominierten Passagen konnte sie sich stets durchsetzen. Dafür sorgte auch Mei-Ann Chen, die das Orchester nicht nur mit ihrem ganzen Körper förmlich beschwor, sondern auch zu Höchstleistungen antrieb.
Der anschließende Beifall des Publikums kam spontan und aus vollem Herzen und wollte nicht aufhören, so dass Diana Adamyan noch die – sowieso erwartete – Zugabe in Form eines virtuosen Solostücks gab.
Nach der Pause folgte Antonín Dvoráks 8. Sinfonie in e-Moll mit dem Untertitel „Aus der Neuen Welt“, die Dvoráks musikalischen Erfahrungen eines zweijährigen Aufenthalts in den USA widerspiegelt. Unterschwellig hatte man nach dem großartigen Solo-Konzert einen etwas ruhigeren Ausklang des Abends erwartet, doch Mei-Ann Chen trieb das Orchester mit ihrer unbändigen Energie noch einmal zu Höchstleistungen an. Schon den ersten Satz ging sie – nach dem ruhigen ersten Takten – mit betont scharfen Klangzuspitzungen an, um dann eine prägnante und nie nachlassende Dynamik zu entwickeln. Der Schluss dieses Satzes kam dabei bereits wie das eigentliche Finale daher.
Im zweiten Satz, einem „Largo“, beeindrucktem vor allem das Oboen-Solo zu Beginn und dann die intensive Innigkeit sowie die weit ausladenden Motivbögen. Der dritte Satz wirkte wie der Auftakt zu einer Jagd und bestach durch die akzentuierte Intonation dieses mit „molto vivace“ bezeichneten Satzes. Der Finalsatz schließlich setzte fanfarenartig ein, und hier beeindruckten vor allem die äußerst präzisen und präsenten Bläser, wobei vor allem die Trompete mit ihren mehrmals wiederholten strahlenden Einsätzen zu erwähnen ist. Man weiß ja, dass es vor allem für die Blechbläser sehr anspruchsvoll ist, an vorgegebenen Punkten ihren hervorstechenden Solo-Auftritt fehlerfrei zu intonieren. Hier gelang dies allen Bläsern auf hervorragende Weise.
Der Dank des Publikums für diese außergewöhnliche Leistung äußerte sich denn auch in begeistertem Beifall, und Mei-Ann Chen ergriff dankbar die Gelegenheit, auch das Publikum noch in seinem Applaus professionell zu dirigieren, nachdem sie schon die einzelnen Instrumentengruppen geradezu choreographisch hervorgehoben hatte.
Dann ergriff, wie gemacht für diesen großen Musikabend, unerwartet der Orchestervorstand das Wort und verabschiedete mit warmen Worten der Achtung und Sympathie den Oboisten Michael Schubert, der seit den frühen Achtzigern in diesem Orchester gespielt hat, in den Ruhestand. Anschließend bedankte sich dieser mit sehr bewegten Worten bei dem Ensemble und auch beim Publikum, wobei ihm an einer Stelle kurz die Stimme versagte. Gerade das machte ihn endgültig authentisch und rührte das Publikum zu spontanem Beifall. Für Schubert war es ein Glücksfall, ausgerechnet mit diesem Konzert zu gehen, das der Oboe noch einmal einen großen Auftritt gewährt, und für das Publikum rundete diese bewegende Verabschiedung den Gesamteindruck des Abends perfekt ab.
Frank Raudszus
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