Von dieser Autorin haben wir bereits den Roman „Das achte Leben“ vorgestellt, der eine georgische Familiengeschichte des 19. Jahrhunderts widerspiegelt. In dem neuen Roman schließt Nino Haratischwili zeitlich an den Vorgänger an, ohne jedoch das Personal zu übernehmen. Man darf aber dennoch einen starken biographischen Hintergrund vermuten, da die emotionale Eindringlichkeit der Geschichte auf intensives eigenes Erleben schließen lässt.
In der Rahmenhandlung treffen sich etwa im Jahr 2018 drei georgische Frauen in den Vierzigern auf einer Brüsseler Photographie-Ausstellung, die der vierten, mittlerweile gestorbenen Freundin in ihrem Bunde gewidmet ist. Die Ich-Erzählerin bangt dem Treffen mit den anderen beiden entgegen, da die Ereignisse vor fünfundzwanzig Jahre, die letztlich zum Tode der nun geehrten Photographin führten, nie richtig verarbeitet wurden. Der Kontrast zwischen dem kosmopolitischen „Schicki-Micki“-Ambiente der Ausstellung und den Erlebnissen der vier Frauen könnte kaum größer sein und schlägt sich auch in den Reaktionen der drei Überlebenden nieder.
Die vier jungen Mädchen wachsen in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der georgischen Hauptstadt Tblisi (Tiflis) auf. Die Sowjetunion existiert noch und bestimmt den Alltag, doch die Mädchen merken davon nichts, denn Jugendliche benötigen nicht viel und interessieren sich kaum für Politik. Ausgiebig wie schon in ihrem ersten Roman schildert die Autorin die Eltern und deren Leben, womit sie den für sie typischen epischen Rahmen schafft, denn jede Familie trägt hier ihr eigenes Päckchen an Schicksal. Langsam schälen sich die vier Mädchen aus ihren jeweiligen familiären Verhältnissen heraus und wachsen zu eigenständigen jungen Frauen mit eigenen Vorstellungen und Plänen heran. Das geht natürlich nicht ohne Reibereien mit den Familien, der Gesellschaft und auch untereinander. Die Beziehungen zu Männern spielen dabei natürlich eine zentrale Rolle.
Während Haratischwili langsam die Vergangenheit der vier Frauen entwickelt, unterbricht sie den Erzählgang immer wieder durch Gespräche der drei Verbliebenen während der Ausstellung. Sie schärft damit sowohl den Blick auf die seitdem vergangene Zeit als auch auf die Entwicklung der Frauen, die alle irgendwie mit den privaten wie gesellschaftlichen Umbrüchen während der 90er Jahre fertig werden mussten.
Die vier Mädchen könnten unterschiedlicher kaum sein und halten trotz aller Probleme und auch Zerwürfnisse zusammen, denn nur ihre Freundschaft lässt sie die schwierigen Zeiten im Georgien dieser Zeit überleben. Als im Jahr 1990 die Sowjetunion zusammenbricht, wird Georgien zwar in die politische Freiheit entlassen, aber diese ist verbunden mit Unsicherheit, politischer Instabilität und Mangel an allem bis hin zu wiederkehrenden Stromausfällen und Rebellionen. Ehemalige Kommunisten kämpfen mit neu erwachten Nationalisten und mit – naiven? – Demokraten. Das unvermeidliche Machtvakuum setzt kriminelle Energien auch in bürgerlichen Familien frei. Die jungen Männer, einem archaischen Männlichkeitsideal folgend, ziehen die Teilnahme an kriminellen, vordergründig die Ehre des Volkes bewahrenden Vereinigungen einer bürgerlichen Betätigung wie Studium und Arbeit vor. Die Ehre der Familie und vor allem der männlichen Mitglieder geht über alles, und Verletzungen dieser Ehre werden umgehend gerächt. So bleiben Anschläge mit oder ohne Todesfolge nicht aus, und jeder dieser Anschläge fordert Rache. Die Frauen sind in diesem Männerspiel nur Tauschware, und die Hoffnung der vier jungen Frauen auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit wird immer wieder enttäuscht.
Am Ende, nach schweren Enttäuschungen, zerstreuen sich die vier, nachdem eine von ihnen arrangierte Ehen eingehen musste und ihre weibliche Attraktivität zunehmend als Waffe in einem gnadenlosen Kampf einsetzt. Die andere, intelligent und zielstrebig, muss ihre heimliche Liebe zu der zwangsverheirateten Frau aufgeben und wird zur zynisch angehauchten Staranwältin in den USA. Die Ich-Erzählerin bleibt in gewisser Weise im Hintergrund, ihren Beruf als Restauratorin alter Kunst darf man als Metapher für den Erhalt wichtiger Traditionen verstehen. Die vierte, tragisch verstorbene Freundin dagegen stand für Aufbruch, Spontaneität und Kreativität, alles Eigenschaften, die sie in der patriarchalischen georgischen Männerwelt nicht ausleben konnte. Ihr Tod ist, wenn nicht biographisch belegt, ebenfalls unausweichliche Metapher für die Unmöglichkeit des Überlebens.
Nino Haratischwili hat mit diesem Roman ihrem Heimatland Georgien ein zweites literarisches Denkmal gesetzt, das kritisch aber letztlich mit großer Heimatliebe die letzten dreißig Jahre dieses geplagten Landes am Schwarzen Meer beschreibt. Simone Kabst verleiht der Erzählung mit ihrer variablen und einfühlsamen Stimme emotionale Tiefe und lässt alle handelnden Personen lebendig werden. Dabei kommen auch die unterschiedlichen Charaktere, Sehnsüchte und Ängste von Männern und Frauen auf je eigene und überzeugende Weise zum Ausdruck.
Das Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst 4 mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von gut 15 Stunden und kostet 30 Euro.
Frank Raudszus
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