Als der Engländer Nicolas Bradhurst vor zwei Jahren Mozarts „Figaro“ inszenierte, provozierte er mit einer grotesk-ironischen Version neben vielen Bravos auch kräftige Buh-Rufe. Bei seiner Deutung von Wagners „Lohengrin“ blieb er sich treu und benutzte ähnliche Bilder und Metaphern.
Bereits der Zwischenvorhang zeigt eine helle, runde Fläche mit zwei Fußsohlen. Erst dem Programmheft ließ sich entnehmen, dass es sich um einen Brunnenschacht im Kosovo mit einer Leiche handelte. Damit war das Motto wie ein Menetekel auf die Stoffwand geschrieben: Krieg. Noch während des langen und sehr sensibel intonierten Vorspiels sieht man hinter diesem Vorhang geschlachtete Schwäne hoch oben an einem langen Seil vorbeiziehen, derweil unten auf der Bühne Frauen die bratfertigen Schwäne verpacken. Aus ist es mit dem „lieben Schwan“, der den tapferen Ritter und mit ihm die Hoffnung bringt.
Wenn sich der Vorhang hebt, zeigt sich ein kaltes Stahlgerüst vor einer vom Krieg zerstörten Hauswand, die durch ein großes Bombenloch den Blick auf den Himmel freigibt. Auf der Empore sammelt sich eine archaische Heerschar in gold-düsteren Gewändern und Kapuzen, gerüstet mit Schwert und Schild. König Heinrich ist mit seinen Truppen hergekommen, um Gerichtstag zu halten – und gleichzeitig einen Feldzug vorzubereiten. Unten sammelt sich derweil ein buntes Volk aus Kellner, Soldaten, Freischärlern, Büromenschen und Hausfrauen – alle in heutiger Alltagskleidung. Unter ihnen befinden sich Friedrich von Telramund (Hubert Bischof), im grauen Zweireiher und mit rotem Emblem am Revers, und seine Gattin Ortrud (Susan Owen) im roten „Business“- Kostüm. Von hier aus nimmt die Handlung ihren Lauf, die zum Verständnis noch einmal kurz zusammengefasst sei.
Telramund klagt auf Betreiben seiner Frau sein Mündel Elsa von Brabant (Doris Brüggemann) des Mordes an ihrem Bruder an. Das eigentliche Motiv ist Rache, da sie ihm vor einiger Zeit die Hand verweigert hat. Die deswegen von Heinrich befragte Elsa verweigert eine Aussage mit dem Hinweis auf einen edlen Ritter, der für ihr Recht kämpfen wird, und erreicht von Heinrich die Zustimmung zu einem Gottesurteil. Ein Freiwilliger soll gegen Telramund um die Entscheidung über Schuld oder Unschuld kämpfen, doch es meldet sich kein williger Ritter.
Erst beim zweiten Ruf erscheint Lohengrin (Ralf Willershäuser), kämpft, gewinnt und schenkt Telramund – unklugerweise – das Leben. Der ihm als Braut angedienten Elsa verlangt er den Schwur ab, ihn nie nach Namen und Herkunft zu befragen. Ortrud jedoch erkennt sofort diesen Schwachpunkt und stiftet den wegen der schmachvollen Niederlage geächteten und verzweifelten Telramund an, in diese Kerbe zu schlagen. Sie selbst schmeichelt sich bei der arglosen Elsa ein und versucht, sie zur verbotenen Frage zu bewegen. Nach der Hochzeit schließlich, im Ehegemach, kann die von Zweifeln gequälte Elsa nicht mehr an sich halten und stellt die Frage. Lohengrin tötet den im selben Augenblick als hinterhältiger Mörder auftauchenden Telramund im Kampf und kündigt Elsa seine Abreise an.
Am nächsten Morgen gibt er vor König und Volk seine Identität als Lohengrin, Sohn des Gralskönigs Parzival, preis. Er sei gesandt worden, um Gerechtigkeit für Elsa zu schaffen, müsse jedoch bei Aufhebung seines Inkognitos sofort zurückkehren, da sonst seine Macht versiege. Zum Abschied erlöst er noch Elsas von Ortrud in seinen eigenen – ironische Pointe – Schwan verwandelten Bruder.
Man sieht, die Handlung ist hoch romantisch – heute würde man sagen kitschig. Naiv oder politisch affirmativ wie im wilhelminischen Reich lässt sich diese Geschichte nicht mehr inszenieren. Gerade zur Kaiserzeit bot sich das Paar Elsa-Lohengrin als Inkarnation germanischer Größe und die Gegenspieler Ortrud-Telramund als Abbilder absoluter Bosheit an, zu Hitlers Zeiten mit dem Zusatz nichtarischen Ursprungs. Um dieser Oper im Sinne eines Gesamtkunstwerks – und nicht nur als Musikdroge – eine Daseinsberechtigung zu verschaffen, muss man die Handlung als Parabel auf Allgemeineres deuten.
Braodhurst hat dieses Allgemeine im Krieg als durchgängiges Wesensmerkmal der Menschheitsgeschichte gefunden. Um es nicht zu unverbindlich werden zu lassen, hat er deutliche Zeichen auf existierende Konflikte gesetzt. Da die Konzeption vor dem 11. September 2001 entstand, bot sich der Kosovo-Konflikt als Ausgangspunkt an. Daher auch der Brunnenschacht auf dem Zwischenvorhang. Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch der Bruch der Kostüme: hier die moderne Kleidung der von Problemen geplagten Gesellschaft, dort eine archaische, monolithische Macht, die sich anmaßt, Recht zu sprechen und es auch durchzusetzen. Die Assoziation zur einzig verbliebenen Weltmacht mit ihrem „Alleinvertretungsanspruch“ drängt sich geradezu auf, besonders, da die Truppe sich selbst nicht an den Scharmützeln und Intrigen beteiligt sondern nur als – bedrohliche – Macht auftritt.
Broadhurst steigert die Kriegsdeutung im weiteren Verlauf konsequent. Zu Beginn des zweiten Akts lässt er Telramund unter der Bewachung bewaffneter Soldaten oder Freischärler sein eigenes Grab schaufeln, damit einerseits die Zustände in den Kosovo-Regionen dieser Welt geißelnd und andererseits Telramunds gesellschaftlichen Absturz markierend. Mag man dieses mehr als deutliche Bild noch akzeptieren, so wirken die Gehenkten am Rande der Bühne doch etwas plakativ, sozusagen als Hinweis für alle, die das Gleichnis immer noch nicht verstanden haben. Etwas weniger wäre hier mehr gewesen. Zum Schluss lässt er sogar SS-20- Raketen – wer kennt die heute noch? – an einem Laufband aufziehen und läuft wegen der etwas heimwerkerischen Machart der Geschosse die Gefahr ungewollter Lacher. Sie kamen gottlob nur sehr verhalten. Heinrich selbst steigt von einer Rampe, die von einem großen Landungsschiff stammen könnte, und auf der Galerie erscheint die Überwachungszentrale einer Raketenbasis auf rot-schwarzen Wandschirmen.
Doch das Bühnenbild bietet noch weitere mehr oder minder subtile Assoziationen. So ziehen die Soldaten zur Hochzeit des jungen Paares über die gesamte Bühne Fahnen auf: ein Schwarzer Adler – eher Pleitegeier! – auf goldenem Kreuz und rotem Hintergrund. Die Kombination dieser drei Farben sagt genug, und darüber hinaus weckt die Fahnenfülle Assoziationen an die Reichsparteitage und dienen gleichzeitig als Zitat der unglückseligen Wagner-Rezeption im Dritten Reich.
Trotz der kompromisslosen (Um)Deutung und der gewagten Bühnenbilder wirkt die Inszenierung bis auf die erwähnten Kleinigkeiten nie aufgesetzt oder gewollt modern. Das liegt vor allem an der Charakterisierung der Personen. Vor allem Ortrud und Telramund wirken bei Broadhurst nicht wie miese Schurken, sondern wie Geschäftsleute, die mit allen Mitteln ihren Erfolg suchen. Sie wirken zwar nicht sympathisch, aber menschlich und in ihren Motiven nachvollziehbar. Selbst in den großen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Frauen erscheinen diese mehr wie gleichwertige Gegnerinnen denn wie Gut und Böse. Ähnliches gilt für Telramund, der als gescheiterter und verzweifelter Unternehmer wesentlich glaubwürdiger wirkt denn als finsterer Schurke.
Auf der „Gegenseite“ hat Broadhurst den Protagonisten ihren Lichtcharakter genommen. Elsa wirkte eher rührend und in ihrer Schwäche hilflos, und Doris Brüggemann macht der herkömmlichen Vorstellung einer jenseitig edlen Frauengestalt einen Strich durch die Rechnung. Ihre Elsa scheitert an ihrer Naivität und an ihren nagenden, kleinmütigen Zweifeln. Telramund zumal kommt als handfester Krisenmanager daher, der auch Zeit findet, dem König vertraulich an die Schulter zu boxen oder mit den hübschen Mädchen aus dem Volk zu flirten. Sein Abschied ist weniger von tiefer Trauer als von distanziertem Bedauern geprägt. Nach seinen letzten Worten eilt er behenden Schrittes zu dem Bombenkrater und zieht dort – wie aus einer Wundertüte und fast mit verschmitztem Lächeln – Elsas Bruder Gottfried hinter der Wand hervor.
Eine feine Ironie zieht sich durch die ganze Inszenierung, artet jedoch nie zum platten Witz aus. Anlass zum Lachen gibt es nur einmal, wenn Lohengrin nach Telramunds Tod mit verbogenem Schwert herumläuft. Aber so etwas kann halt passieren und ist die Würze einer Premiere. König Heinrich erscheint in seiner statuarischen Aufmachung mit Goldkrone, wallendem Mantel und langem Bart wie einem Märchenbuch entstiegen, und wenn er seine Schlachtross-Attrappe besteigt, wirkt dies wie ein ironisches Zitat germanisch-bombastischer Wagner-Inszenierungen.
Die sängerischen Leistungen rundeten die Inszenierung stimmig ab, allen voran Doris Brüggemann und Susan Owen. In allen Lagen sicher und präsent, hoch konzentriert und auch konditionsstark – bei Wagner gehört dieses Sportadjektiv zum Vokabular – leisteten sie ein unerhörtes Pensum. Die genaue szenische Abstimmung zwischen den beiden Kontrahentinnen in ihren gemeinsamen Szenen steigerte stetig die Dramatik.
Hervorzuheben ist auch die Leistung von Hubert Bischof als Telramund. Neben seiner jederzeit präsenten Stimme beeindruckte vor allem seine überzeugende Darstellung eines innerlich zerrissenen, am Leben verzweifelnden und die Niederlage nicht verkraftenden Mannes, der sich gegen seine psychologisch geschickt agierende Frau nicht wehren kann und der am Ende in sein Verderben läuft.
Ralf Willershäuser als Lohengrin und Friedemann Kunder als Heinrich lieferten solide Partien ab, wobei Willershäuser als tragende Rolle deutlich stärker gefordert war. Ein besonderes Lob gebührt dem Chor, der von André Weiß wieder einmal hervorragend eingestellt war und neben außerordentlicher Beweglichkeit und hohem szenischem Bewusstsein auch eine gute Artikulation zeigte, die das Verständnis der Texte erleichterte. Anton Keremidtchiev hatte dieses Ml nur die etwas bescheidenere Rolle des Heerrufers, die er jedoch – wie immer – souverän ausfüllte.
Das Orchester unter Stefan Blunier war ein weiterer Glanzpunkt dieses Abends. Nicht nur weiß Blunier hervorragend mit den leisen Tönen umzugehen und damit die Stimmung zu steigern. Mit seiner verhaltenen Orchesterführung vermeidet er die bei Wagner immer gegebene Gefahr, die Sänger zuzudecken, und gesteht ihnen ausreichend Raum zur Entfaltung ein. Besonders faszinierend zeigte sich seine Pausentechnik, die er in dramatischen Momenten effektvoll einzusetzen weiß. So lässt er nach dem zweiten Ruf nach einem freiwilligen Kämpfer Orchester und Ensemble nahezu eine halbe Minute pausieren. Die Sänger starren ins Publikum, als wollten sie fragen: „Hat denn hier keiner die Zivilcourage zu helfen?“. Auch in den expressiven Passagen wahrt Blunier immer die Transparenz des Klangkörpers, und nie wabern wahnsinnige Wogen aus dem Graben….
Das Publikum dankte den Darstellern und dem Orchester mit begeistertem, lang anhaltendem Applaus und vielen Bravo-Rufen. Die Regie musste sich jedoch – wahrscheinlich aus der Ecke konservativer Wagner-Liebhaber – eine ganze Batterie von Buh-Rufen gefallen lassen. Offensichtlich gefielen so Manchem das kompromisslose Bühnenbild und seine Implikationen nicht. Auf den Rängen entstand fast ein kleiner „Sängerkrieg“ zwischen den beiden Lagern, der zum Schluss noch einmal für Aufregung und ausreichend Gesprächsstoff während der ausgiebigen Premierenfeier sorgte.
Frank Raudszus
No comments yet.