Jede neue Inszenierung einer Repertoire-Oper kämpft mit dem Problem, dem jeweiligen Werk andere, zeitgemäße Aspekte abzugewinnen. Nur die reine Unterhaltung gibt sich mit einer möglichst opulenten Wiedergabe der Handlung zufrieden. Im Gegensatz zum Schauspiel, das „nur“ mit der Zeichenhaftigkeit der Sprache konfrontiert ist und die Interpretation ziemlich frei gestalten kann, ist die Oper an die Musik gebunden, die sich weder harmonisch noch metrisch ändern lässt. Bei Wagner-Opern kommt hinzu, dass Text und Musik eng ineinander verwoben sind, sodass sich auch die Texte kaum umformen lassen.
Wagners „Lohengrin“ ist ein solcher Fall, in dem der Komponist seine Vorstellungen von Welt und Individuum anhand eines Sagenstoffes musiktheatralisch umgesetzt hat. Der einsame Gralsritter aus höheren Sphären rettet im Rahmen eines vom König ausgerufenen Gottesurteils Elsa von Brabant vor der Anschuldigung ihrer Rivalen Telramund und Ortrud, ihren eigenen Bruder getötet zu haben. Die ihm angebotene Hand Elsas und damit die Regierungsgewalt über Brabant nimmt er an, allerdings unter der Bedingung, dass Elsa ihn nie nach Name oder Herkunft fragen dürfe. Als sie ihren Schwur in der Hochzeitsnacht bricht, gibt er sich zwar als Gralsritter zu erkennen, trennt sich aber gleichzeitig von ihr, da er als „erkannter“ Gralsritter seinen Status verlieren würde, und kehrt zurück auf die mythische Gralsburg Montsalvat. Vorher entzaubert er noch Elsas vermeintlich ermordeten Bruder, den Ortrud als Basis ihrer Intrige in einen Schwan verwandelt hatte.
Es fällt nicht schwer, in Lohengrin den einsam über der Gesellschaft schwebenden Künstler zu sehen, der den Menschen durch seine Kunst das ultimative Glück beschert, von dem man aber keine Rechenschaft im Sinne des „woher“ und „warum“ fordern dürfe. Ein kontrollierter weil integrierter Künstler verliert seine kreative Macht. Wen Wagner da in erster Linie sieht, versteht sich von selbst.
In diesem Sinne hat Wagner die Figur des Lohengrin als höheres Wesen mit heiligem Wissen und unbeirrbarer Menschenfreundlichkeit konzipiert, das in keiner Szene in die Gefahr niederer Versuchungen gerät. Und Elsa ist die verständnislose, „neugierige“ Frau, die dieses Geheimnis als demütigend empfindet und das gemeinsame Glück zerstört, weil sie die Einzigartigkeit des Gralsritters nicht erkennt.
Man kann dieselbe Situation jedoch auch anderes deuten: Demnach ist Lohengrin ein Egomane, der auf seiner – nicht bewiesenen! – Einzigartigkeit besteht und daraus die Forderung an alle ableitet, ihn grundsätzlich von jeglicher wertenden Kritik auszunehmen.
Andrea Moses versucht, die Oper aus dieser letzteren Perspektive zu inszenieren. Dazu lässt sie alle Beteiligten in heutiger Kleidung auftreten: den König (Johannes Seokhoon Moon) in einem korrekten gedeckten Anzug, Telramund (Johannes Schwärsky) in dem eher etwas schäbigen Anzug des zweitrangigen Intriganten und Ortrud (Katrin Gerstenberger) in einem engen, fast strengen roten Kostüm, das ihre Dominanz zum Ausdruck bringt. Elsa (Dorothea Herbert) dagegen ist eher wie eine junge naive Frau gekleidet, und Lohengrin (Peter Sonn) kommt im blauen Anzug eines High-Tec-CEOs und mit dessen vordergründigem Selbstbewusstsein daher. Die Bühne des ersten Aktes ist als Parlamentssaal hergerichtet, und der Chor spielt dessen Abgeordnete. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann Lohengrin als Aufsteiger im Politikgeschäft denken, ähnlich wie einst Freiherr zu Guttenberg. Andrea Moses lässt der Phantasie der Zuschauer hier freien Raum.
Der Lohengrin dieser Inszenierung inszeniert sich selbst als Heilsbringer, wie so mancher populistische Politiker. Seine raumgreifenden Schritte, sein fast schon eingefrorenes Lächeln und sein steter Griff zum Handy für das Checken der Nachrichten oder für Selfies sind ein eindeutiger Verweis auf typische Egomanen des öffentlichen Roms, sei es aus dem Show-Business oder der Politik. Und die Öffentlichkeit, dargestellt durch den Chor, jubelt diesem Selbstdarsteller zu, weil sie glauben will, was er verspricht. Die naive Elsa folgt ihm natürlich ebenfalls kritiklos, nachdem er sie vor Telramund gerettet hat. Nur Ortrud – bei Wagner eine intrigante Thronräuberin – erkennt, wenn man so will, Lohengrins Fassade als solche und betrachtet Telramunds Niederlage nur als verlorene Schlacht, nicht aber als verlorenen Krieg. Insofern ändert sich in dieser Inszenierung – zumindest kurzfristig – auch die Figur der Ortrud in Richtung einer Kassandra.
Man könnte jetzt diese Selbstgefälligkeit der selbsternannten Eliten anhand der Figur Lohengrin durchdeklinieren, doch da liegt das Problem. Denn Wagner dachte gar nicht an diese Interpretation und hielt sein Lohengrin-Bild in den weiteren Akten konsequent durch. Seine Texte laufen jedem Versuch der Entlarvung als Überheblichkeit zuwider. Vor allem im letzten Akt schwillt dieser Lohengrin nicht nur zu einer gewissen Allmacht an – er entzaubert Elsas Bruder -, sondern seine Worte sind geradezu getränkt von Verzicht und Askese. Ob man diese Grals-Askese heute noch für glaubwürdig oder eher für kitschig hält, ist eine Sache, sie lässt sich aber nicht als ihr Gegenteil, nämlich als egozentrische Selbstüberhebung umdeuten. Wagners Lohengrin übt sich in konsequentem Glücksverzicht und gleichzeitig in selbstloser Großzügigkeit. Andrea Moses muss das gemerkt haben, denn im dritten Akt ist nichts mehr von der Selbstgefälligkeit der Titelperson zu spüren, die nun ganz im Wagner-Fahrwasser schwimmt. Zwar verzichtet diese Inszenierung auf jegliches überkommene Wagner-Pathos, aber eine kritische Sicht auf die Figur Lohengrin will aufgrund der gegebenen Handlung und Texte nicht mehr gelingen. Im zweiten Satz fällt dieses Problem nicht auf, weil hier die fortwährenden Intrigen von Ortrud und Telramund im Vordergrund stehen, die der Oper kurzfristig fast den Charakter eines Psychothrillers verleihen.
So bleibt die Inszenierung am Ende in gewisser Weise seltsam ambivalent, man könnte sie auch als „zu kurz gesprungen“ untertiteln. Denn die Absicht zu Beginn des ersten Aktes war unverkennbar und weckte Neugier auf etwas Neues, doch der Schluss verlief dann wieder im Fahrwasser der Originalversion. Das ist nur zum Teil als Kritik an der Regie zu verstehen, und wenn, dann in der Hinsicht, dass man eine Perspektive, die man nicht durchhalten kann, vielleicht gar nicht eröffnen sollte.
Nimmt man diese Inszenierung als musiktheatralische Umsetzung eines gegebenen Textes, dann darf man durchaus von einer gelungenen Inszenierung sprechen. Andrea Moses hat jegliches falsches Pathos vermieden, und selbst die penetrante Deutschtümelei und die Parolen gegen den Ansturm der östlichen Heere – zufällige Analogie zur aktuellen Weltlage! – wirken eher historisch als peinlich, da weder die Bühne noch die Kostüme eine nationalistische oder gar chauvinistische Deutung nahelegen. Die Darsteller agieren eher locker und offen als statisch-pathetisch, allen voran der anfängliche „Blendax“-Mann Peter Sonn; Katrin Gerstenberger und Johannes Schwärsky legen das Intrigantenpaar eher wie heutige AfD-Verschwörer an denn wie mythische Höllenfiguren, und Dorothea Herberts Elsa wirkt eher wie eine noch unerfahrene Firmenchefin, die sich erst eine Übersicht verschaffen muss und auch schon mal auf die Falschen hereinfällt. Durch diese durchgehende antimythische Darstellung gewinnt diese Oper tatsächlich so etwas wie Aktualität, auch ohne die unterstützende Funktion des – realen – Ukrainekrieges und seiner Analogie zu der – fiktiven – Angst vor den Ungarn.
GMD Daniel Cohen unterstützt diese Leichtigkeit durch eine federnde Intonation von Wagners Musik. Nur selten dröhnt es aus dem Graben mit mythischer Macht, und wenn, dann dennoch transparent und nie pastos. Auch die Tempi sind so gestaltet, dass sich kaum falsches Pathos oder schwülstige Mystik herauslesen lässt. Das Orchester lässt dem Gesangsensemble genug akustischen und musikalischen Raum, um die Handlung in dem beschriebenen Sinne zu entwickeln, wirkt deswegen jedoch keinen Augenblick lang als reine Begleitung des Bühnengeschehens.
Das Publikum war angetan und spendete kräftigen Beifall, durchsetzt mit einzelnen „Bravo“-Rufen.
Frank Raudszus
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