Nach dem originellen „Meta“-Hamlet und der bissig gegenderten „Königin Lear“ war man gespannt, wie das Staatstheater Darmstadt mit „Romeo und Julia“den nächsten Shakespeare-Klassiker inszenieren würde. Hatte man doch im Zuge des wieder erwachenden Theaterlebens Thesen gehört, dass man klassische Stücke heute nicht mehr in Originalform bringen können. Bei dem grübelnden dänischen Prinzen war die intellektuelle Spielerei mit der Meta-Ebene recht gut gelungen, und in der weiblichen Manager-Tragödie waren auch die familiären Abgründe gut gespiegelt. Wie würde Regisseur Christoph Mehler mit dem berühmteste Liebespaar der Literaturgeschichte umgehen?
Das Bühnenbild von Jennifer Hörn liefert dazu noch keine neuen Erkenntnisse. Im Hintergrund heben sich zu Beginn zwei raumgroße Zylinder aus beleuchtetem Gaze-Stoff zur Decke und hängen dort, sozusagen als bildliche Metapher der Antipoden Montague und Capulet, bis zum Ende des Stücks über einer leerschwarzen Bühne. Zu diesem Ersatz eines sich hebenden Vorhangs marschiert das gesamte Ensemble an die Rampe der noch abgedunkelten Vorderbühne und präsentiert sich schweigend dem Publikum – nicht als Ensemble sondern als Figurentableau. Dazu laufen grafisch stark konturierte Videoclips der sich mehr oder minder emotional gebärdenden Mitglieder des Ensembles. Diese mal verzweifelt, mal verloren anmutenden Clips überbrücken im Laufe der Inszenierungen aufeinander folgende Szenen.
Insofern ist Mehlers Inszenierung bereits „modern“: keine Historisierung, denn auch die Kostüme sind eher zeitlos bis modern. Und auf theatralische Illusion verzichtet Mehler ebenfalls konsequent, indem er die nicht agierenden Mitglieder des Ensembles sichtbar im Hintergrund auf ihren nächsten Auftritt warten lässt, während die gerade aktiven Figuren demonstrativ an die Rampe treten und dort ihren Dialog fast in Gestalt einer Lesung vortragen, bewusst den Augenkontakt mit dem Publikum suchend. Dadurch erhalten viele Szenen einen lehrhaften Charakter à la Brecht.
Deutsche Versionen der Shakespeare-Dramen haben den Vor-und Nachteil, dass man sich in jedem Fall vom Wortlaut des Originals trennen muss. Während ein Kleist grundsätzlich im ursprünglichen Wortlaut gespielt werden sollte (hier streiten sich die Geister!), verleiht die Übersetzung eines fremdsprachlichen Stücks stets gewisse Freiheitsgrade. Mehler lässt – verständlicherweise – nicht Schlegels Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert zu Wort kommen, sondern stützt sich auf eine neue Version von Frank-Patrick Steckel. Und hier liegt bereits die Ursache für die Probleme dieser Inszenierung.
„Romeo und Julia“ ist – im Gegensatz zu den oben erwähnten Stücken – ein Paradesbeispiel für absolute, nicht mehr hinterfragbare Emotionen, die obendrein noch zu einer Art Wahrheit stilisiert werden. Romeo lebt nur noch für Julia und sie für ihn. Beide interessiert die Feindschaft ihrer Elternhäuser und – in Konsequenz – auch diese nicht mehr. Auch Romeos tödlicher Streit mit Tybalt ist nur ein Abfallprodukt seiner Liebe zu Julia und hat für ihn eher periphere Bedeutung. Diese absolute Liebe führt zwangsläufig zu einem hohen Ton, den Shakespeare und seine frühen Übersetzer auch durchweg gehalten haben. Dieser hohe Ton kulminiert in dem tragischen Doppelselbstmord am Ende, der bei einer anderen Tonlage leicht in unfreiwillige Komik umschlagen kann. Schließlich basiert der tragische Schluss auf dummen Zufällen bei der Kommunikation und nimmt dadurch groteske Züge an.
Steckels Übersetzung bietet jedoch eine seltsame Mischung aus gereimten Versen, die an Schlegel erinnern, und umgangssprachlichen Redewendungen der Jetztzeit. Folgerichtig lässt Mehler seine Protagonisten auch als mentale Vertreter unserer Zeit auftreten. Romeo (Ali Berber) kommt als leicht verspielter, wenn nicht „verpeilter“ Vertreter einer „jeunesse dorée“ daher, der gerne Sprüche klopft und nichts ernst nimmt. Sein Tonfall ändert sich jedoch auch nicht, nachdem er sich in Julia verliebt hat, sondern bleibt „cool“, wenn auch ein wenig verwirrt. Doch einen grundstürzenden Wandel seiner Psyche spiegelt seine kaum veränderte Sprache nicht wider. Auf der anderen Seite spielt Edda Wiersch die Julia als emanzipierte junge Frau und nicht als von ihren Emotionen überwältigte Vierzehnjährige. Von Anfang an erscheint sie in den Dialogen mit ihrer Mutter (Karin Klein) und der Amme (Gabriele Drechsel) als die aktive Figur, wenn sie auch den mütterlichen Weisungen folgen muss. Doch keinen Augenblick wirkt Wierschs Julia verschreckt oder wehrlos, sondern sie behält bis zum Schluss die Deutungshoheit über ihr Leben. Mag das noch mit der absoluten Liebe der Shakespeare´schen Julia deckungsgleich sein, so ist ihre klare, emanzipierte, ja – fast saloppe Tonlage nicht mehr mit dem Text der Vorlage zu vereinbaren. Auch Julia wirkt stets „cool“, und die Liebe zu Romeo scheint für sie eher ein möglicher Weg aus der mütterlichen Umklammerung als ein emotionales Muss zu sein. Da Steckel trotz seiner umgangssprachlichen Elemente natürlich auf den Inhalt der Originaldialoge nicht verzichten konnt, steht dieser des Öfteren in einem seltsamen Kontrast zur Tonlage. Vor allem Julias verzweifelte Monologe wirken in Edda Wierschs „moderner“ Darbietung dann eher wie verärgerte Gedanken über ein missglücktes Wochenende. Diese Diskrepanz zwischen Inhalt und Form lassen dann die tragische Schlussszene geradezu zur grotesken Slapsticknummer verkommen, wenn die beiden sich im Zeitraffer – „Ruckzuck“ – erst gegenseitig als (vermeintlich) Tote entdecken und dann selbst umbringen.
Ähnlich geht es bei den Kampfszenen zu. Schon lange scheute man eigentlich die Darbietung offener Fechtszenen auf der Bühne, weil das moderne Theaterpublikum sich von solchen Szenen einfach nicht mehr faszinieren lässt, es sei denn, auf der Bühne agierten echte Fechtmeister im Sinne eines sportlichen Wettkampfes. Um der Gefahr der Lächerlichkeit aus dem Wege zu gehen, verlagert man die Szenen gerne hinter die Bühne oder deutet sie nur an. Doch Mehler lässt seine Kontrahenten mit echten Theaterdegen aufeinander losgehen, was sie nicht schlecht machen, der angeblich tödlichen Stoß erfolgt dann aber derart dilettantisch, dass nur sehr unbedarfte Gemüter den schnellen Tod des Getroffenen nicht als lächerlich empfinden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Regie diese Szenen zwar für den Fortgang der Handlung benötigt – und schließlich gehören sie ja zum Stück -, aber kein rechtes Interesse für die emotionale Zuspitzung solcher – eigentlich existenziellen – Zweikämpfe aufbringt. Man ficht ein wenig, und dann ist einer tot.
Ähnliches gilt für die Grundhaltung beider Protagonisten. Vor allem bei Romeo hat man das Gefühl, als wolle er zum Schluss, vor der vermeintlichen Leiche Julias, sich darüber beklagen, dass es ja mit seiner Freundin eigentlich ganz cool gewesen sei, aber am Ende alles „dumm gelaufen“ sei. Blödes Pech! Und Julia übernimmt dann diesen Tenor bei ihren Schlussworten. Betroffenheit oder gar Ergriffenheit will beim Zuschauer selbst in diesen letzten Worten der beiden nicht aufkommen. Wir wollen hoffen, dass dies nicht im Sinne einer „Entlarvung“ dieses großen Stücks beabsichtigt war, sondern nur einer missglückten Regieidee geschuldet ist.
Die Darsteller – mit diesem generischen Maskulinum meinen wir stets beide Geschlechter – bemühen sich nach Kräften, im Rahmen der Regievorgaben ihr Bestes zu geben, können aber den beschriebenen Eindruck nicht aufweichen. Ali Berber und Edda Wiersch bleiben in dieser Inszenierung emotionale Leichtgewichte. Auch die anderen Figuren sind mehr Stützpunkte für die Handlung denn eigene Charakter mit Durchschlagskraft, was jedoch weitgehend auf der unglücklichen Sprachmischung der zu Grunde liegenden Übersetzung beruht. Wer ständig zwischen zu deklamierenden Versen und salopper Alltagssprache wechseln muss, kann schlecht ein glaubwürdiges Profil entwickeln. Da haben es Gabriele Drechsel als Amme und Jörg Zirnstein als Bruder Lorenzo noch am besten, da sie auch sprachlich in einem geschlossenen Rahmen agieren.
Frank Raudszus
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