Mit Spannung wurde die bereits seit Wochen kräftig beworbene neue Tanztheater-Produktion am Hessischen Staatsballett erwartet. Die Premiere des neuen Programms mit dem Titel „What we are made of“ fand dann am 8. April statt und beinhaltete neben einer Wiederaufnahme einer älteren Choreographie auch eine Uraufführung, die naturgemäß den Abschluss des Programms bildete.
Am Anfang stand die Produktion „Untitled Black“ der Israelin Sharon Eyal aus dem Jahr 2012, die bereits im Jahr 2020 in Darmstadt zu sehen war. Unter einem von oben einfallenden Lichtkegel sammelt sich die Tanztruppe auf engstem Raum, sich leicht bewegend und nach oben strebend wie ein lebender Organismus. Dann spaltet sich der Lichtkegel in drei kleinere, divergierende auf, und das Ensemble beginnt langsam, sich auf der Bühne zu verteilen. Dazu hämmert eine techno-ähnliche Musik aus den Lautsprechern, die akustisch das gesamte Große Haus beherrscht. Von Beginn an steht das Kollektiv im Vordergrund, nicht nur faktisch-tänzerisch, sondern auch metaphorisch. Schnell schält sich die Aussage heraus, dass der Mensch als soziales Wesen vom Kollektiv abhängig ist und dieses ihn immer wieder gnadenlos von seinen Eskapaden in die Individualität zurückholt. Tänzerisch schlägt sich das in weitgehend synchronen Bewegungsabläufen nieder, die von Zeit zu Zeit von abweichenden Figuren Einzelner oder kleiner Gruppen unterbrochen werden. Doch stets holt die Gruppe die Ausreißer mit sanftem Druck zurück. Hier wird weder die Rebellion des Individuums gegen das Kollektiv gefeiert noch dessen Umkehrung, die Rückholung, moralisch kriminalisiert. Alle Bewegungen wirken organisch: die Abweichungen ebenso wie die Reintegration. Insofern verweist diese Produktion zurück auf den Titel des Abends sowie zumindest implizit auf die Evolution, die den Menschen als Zwitterwesen zwischen Sozialem und Individuellem angelegt hat.
Die in ihrem unerbittlichen Duktus konsequent durchgehaltene, wenn auch immer wieder leicht variierte – oft wie kurzes Atemholen – Musik spiegelt dabei die Notwendigkeit diese evolutionären Struktur wider. Die Natur ist unerbittlich und bestimmt weitgehend das Leben, wenn nicht im individuellen, ephemeren, so doch im übergreifenden, oder prosaisch: statistischen Sinn. Selbst ökologische Aktivisten der radikalsten Art müssen zugeben, dass die Existenz der Menschheit in Vergangenheit und Zukunft nur einen verschwindend geringen Anteil eingenommen hat und einnehmen wird. „Der Titel „What we are made of“ – verweist dabei genau auf diese kosmische Tatsache.
Die Choreographie vermittelte sowohl musikalisch als auch tänzerisch einen ausgesprochen kompakten, fast monolithischen Eindruck. Die tänzerischen Figuren bewegten sich stets innerhalb eines dem Kollektiv gewidmeten Rahmens, was Soloeinlagen auf ein Minimum beschränkte. Und auch einzelne individuelle Ansätze wurden stets vom Kollektiv gerahmt und wieder aufgesogen. Obwohl – oder weil? – der metaphorische Zweck dahinter deutlich wurde, wirkte die gesamte Choreographie streckenweise etwas statisch, was aber der tänzerischen und ästhetischen Qualität keinen Abbruch tat.
Nach der Pause setzte die Choreographie „Timeless“ der Chinesin XIE Xin den Kontrapunkt zu dem ersten Teil des Abends. Auf einer leeren Bühne liegt ein einzelner, von oben beleuchteter Tänzer. Dann hebt sich an der Rückwand der völlig stillen Bühne langsam eine zweite, mit Musikern besetzte Bühne. Wenn sie zur Ruhe kommt, dauert es noch ein paar spannende Augenblick, bis ein einzelner, tiefer Klavierton erklingt, der langsam im weiten Raum nachhallt. Es folgen weitere einzelne Töne in langen Abständen, zu denen sich der Tänzer auf der Bühne im Zeitlupentempo erhebt und erste Figuren zelebriert. Im weiteren Verlauf erscheinen weitere Tänzer und Tänzerinnen in extrem verlangsamtem Tempo und erschaffen mit ihren Bewegungen in Zeitlupe so etwas wie eine Straßenszene. Man versteht sofort den Titel „Timeless“, weil hier die Zeit extrem gedehnt wird bis nahe an den Stillstand.
Die nur aus minimalistischen Einzeltönen wechselnder Instrumente – meist Cello oder Klavier – bestehende Musik intoniert diese Zeitdehnung auf kongeniale Weise. Dass es viel schwieriger ist, nach langsamer Musik zu tanzen als nach schneller, weiß jeder, der mal einen Tanzkurs gemacht hat, und gerade darum sind die vielfältigen Lebensäußerungen auf der Bühne von besonderer tänzerischer – und metaphorischer – Qualität. Dabei deckt XIE Xin den gesamten Bereich menschlicher Aktivitäten ab, bis hin zum heftigen Kampf, der bisweilen wie ein gestelltes Abbild der „Laokoon“-Skulptur anmutet. Und ebenso wie Sharon Eyal hält XIE Xin ihren Ansatz bis zum Schluss durch: kein BREAK, keine plötzliche Tempo-Änderung; konzentrierte Langsamkeit, eben „Timelessness“, bis zum Schluss, der dann ebenso unspektakulär und fast melancholisch eintritt wie der Anfang.
Mit diesem Programm ist das Hessische Staatsballett nach einer langen Zwangspause mit nur kleinen Produktionen mit einem großen Befreiungsschlag zurück auf der Bühne. Das Publikum nahm beide Choreographien mit Begeisterung auf und spendete kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
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