Das 8. Kammerkonzert der laufenden Saison stand unter besonderen Vorzeichen, wobei die Tatsache, dass es – warum eigentlich? – in der Orangerie stattfand, eher peripher war. Zentral dagegen war die deutsche Erstaufführung eines Werkes, das das Staatstheater selbst in Auftrag gegeben hatte. Das Modigliani-Quartett, bestehend aus dem Musikern Amaury Coeytaux (vn), Loic Rio (vn), Laufent Marfaing (va) und Francois Kieffer (vc), war schon seit längerem für das Darmstädter Kammermusikprogramm vorgesehen, und zu diesem Zweck hatte man einen eigenen Kompositionsauftrag an den Engländer Marc Anton, nein: Marc-Anthony Turnage über ein Streichquartett erteilt, das speziell das Profil des Modigliani-Quartetts berücksichtigen sollte. Am 7. April konnte dann endlich die deutsche Premiere dieses Stücks stattfinden.
Aber bis es soweit war, stand noch anderes auf dem Programm. Man hatte sich natürlich gut überlegt, was aus dem großen Streichquartett-Repertoire zu Turnage passen würde. Denn Turnage war gesetzt, und der programmatische Kontext konnte aus eben diesem Repertoire kreiert werden. Wenn es um Schwergewichte beim Streichquartett geht, stehen zwei Namen an der Spitze der Kandidatenliste: Beethoven und Schubert, wobei die Reihenfolge hier rein alphabetisch motiviert ist.
Der Titel von Turnages Quartett, „Split Apart“, verweist auf Großbritannien Abspaltung von Europa, die den Komponisten als überzeugten Europäer schwer getroffen hat. Das schlägt sich auch deutlich in der Komposition nieder. Der erste Satz beginnt langsam mit abrupt aufschießenden Strichen. Dann bewegt sich die Violine über eher markanten Pizzicati der anderen drei Instrumente. Die wiederkehrenden harten Einsätze markieren Wut und Enttäuschung. Der zweite Satz wirkt wie ein ferner Grabgesang auf die Utopie des vereinten Europas, den nur die düsteren Crescendi böser Vorahnungen unterbrechen. Geradezu überfallartig beginnt der dritte Satz und setzt sich dann fort in metrisch freien Figuren und ostinaten, geradezu bohrenden Motiven. Im vierten Satz sorgen die gegenläufige Einzelstimmen für eine resignative Grundstimmung, und der Finalsatz wirkt wie ein Abgesang auf alle Zukunftshoffnungen.
Betrachtet man diesen mal melancholischen, mal aufbegehrenden Grundtenor des Stücks, dann bietet sich als Abrundung des Programms eigentlich nur Schubert an, der ähnlich an der Welt litt wie Turnage, jedoch nicht aus aktuellem politischen Anlass. Da ein ganzer Abend der Resignation und Hoffnungslosigkeit jedoch nicht im Sinne der Programmgestalter war, musste zumindest ein lockerer Auftakt her. Üblicherweise spielen die Quartette dann zu Beginn ein frühes Haydn-Quartett, was genau betrachtet jedoch eine Missachtung eines großen Komponisten wie Joseph Haydn darstellt. Daher wählte man das frühe Schubert-Quartett D 94 in D-Dur aus, das dieser im jugendlichen Alter von vierzehn Jahren verfasste. Es ist noch unausgeprägt und besteht aus einfachen, wiederkehrenden Motiven. Große Kontraste und markante, gegeneinander laufende Stimmen fehlen weitgehend. Der zweite Satz besteht aus einem einfachen liedhaften Thema, das angemessen variiert wird, der dritte aus einem lebhaft tänzerischen Thema, und der Finalsatz schließlich kommt als Haydn-Hommage daher. Man kann sich fragen, ob dieses Stück das Zeug für ein Konzertprogramm hat, doch als Vorspann für ein in jeder Hinsicht gewichtiges, wenn nicht „schweres“ Programm eignet es sich hervorragend, zumal es damit nicht den diskriminierenden Charakter eines „Warmlauf“-Stücks annimmt.
Spiegelbildlich stand dann Schuberts spätes Streichquartett D 804 in a-Moll aus dem Jahr 1824 am Ende des Abends. Es nimmt Turnages mal resignative, mal aufbegehrende Ausdrucksweise in kongenialer Art und Weise auf, obwohl es historisch natürlich ein Vorgänger war. Doch hier verbeugt sich – zumindest implizit – einmal Schubert als letzter im Programm vor einem Nachgeborenen statt umgekehrt. Schon der erste Satz verströmt reine Entsagung, die sich vor allem in der durchlaufenden Basslinie niederschlägt. Einzelne Stimmen bringen diese entsagende Stimmung prägnant zum Ausdruck, und ein Fugato verstärkt den Ernst der Aussage noch. Im zweiten Satz erklingt das berühmte „Rosamunde“-Thema, das trotz seiner liedhaften und eingängigen Motive dem düsteren a-Moll nicht trotzen kann. Auch das Menuett des dritten Satzes strahlt die depressive Stimmung wie die Vorgänger aus. Nach einem kurzen Aufbegehren zu Beginn leugnet dieser Satz seine formal tänzerischen Charakter und lässt den Schmerz des Komponisten über ein unglückliches Leben zum Ausdruck kommen. Erst der Finalsatz verlässt mit seinem A-Dur das Tal der Tränen und gewinnt eine gewisse rhythmische Lebendigkeit und sogar tänzerische Ansätze. Wie so oft lässt Schubert auch in diesem Schluss-Satz so etwas wie einen zarten Hoffnungsschimmer zu.
Das Modigliani-Quartett baute diese Struktur aus Sehnsucht und Melancholie systematisch mit sehr viel musikalischer Sorgfalt auf. Beginnend mit der fast kindlichen Naivität des ersten Schubert-Quartetts, brachten sie Turnages wütende Enttäuschung über den Brexit ebenso konsequent zum Ausdruck wie Schuberts geradezu schon immanenten Weltschmerz, der bei dem Wiener Musiker jedoch keine schicke Attitüde, sondern erlebtes seelisches Unglück war. Und so geriet Schuberts Quartett trotz der Zentralstellung des englischen Auftragwerks zum Schluss doch wieder zum Höhepunkt des Abends.
Das Publikum erlebte dieses Moll-Abend als bewegendes musikalisches Opfer und zeigte sich so angetan, dass die vier Musiker auf der Bühne als Zugabe noch ein Scherzo von – wem? – Schubert spielten.
Frank Raudszus
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