Wir haben Mithu Sanyals Roman „identitti“ an dieser Stelle bereits besprochen, daher wollen wir hier nicht mehr detailliert auf die Handlung eingehen. Die erwähnte Rezension betont jedoch bereits die nicht nur komplizierte sondern inhärent ambivalente Diskurslage zum Thema der ethnischen Identität. Die Bühnenversion muss also nicht nur einen komplexen Thesenroman verarbeiten, sondern auch alle internen Widersprüche bis hin zu Aporien. Da die Handlung in Gestalt des Konflikts zwischen der Studentin Nivedita und der Professorin Saraswati von Anfang an sozusagen als Voraussetzung gegeben ist, entfällt der Spannungsbogen einer Konfliktentwicklung.
In Darmstadt lässt die Regisseurin Salome Dastmalchi denn auch die beiden Kontrahentinnen gleich zu Beginn aufeinander prallen. Bis zum Ende der knapp zweistündigen Inszenierung werden immer wieder die selben Fragen gestellt, die selben Vorwürfe erhoben und die selben Antworten gegeben. Als Kernpunkt schält sich die Unfähigkeit heraus, den Standpunkt der anderen Seite zu verstehen, oder ihn akzeptieren zu wollen. In gewisser Weise dreht sich das textlastige Geschehen auf der Bühne daher im Kreise, was aber nicht der Regie oder gar den Darstellern anzulasten ist, sondern als konstituierendes und damit bewusstes Element dieser Inszenierung anzusehen ist.
Bühnenbild und Kostüme (Paula Wellmann und Ariella Karatolou) zeigen eine aseptische Umgebung: bewegliche weiße Elemente stellen mal einen Hörsaal, mal andere Räumlichkeiten dar, die jedoch nur minimale soziale Aussagekraft aufweisen. Ähnliches gilt für die Uniformen ähnelnden Blaumänner, die alle Darsteller (generisches Masculinum!) tragen. Sie sollen die Unterschiedslosigkeit der Protagonisten von der Studentin bis zur Professorin markieren, lassen sich jedoch sarkastisch auch als Metapher für die Identität in der Identitätslosigkeit interpretieren.
Die lauten bis aggressiven Vorwürfe der Studentin und ihrer Freunde gegen die kulturelle Aneignung der Professorin kontert diese gerade mit der Spiegelung der Forderung, dass ethnische Merkmale wie Hautfarbe für die Identität keine Rolle spielen dürften, also sei auch sie frei in der Definition ihrer Identität, zum Beispiel als gebürtige Inderin. Letztlich kreist die heftig kreiselnde Auseinandersetzung um den Begriff und den „Besitz“ der Opferrolle, nicht immer explizit, doch durchgängig in Gestalt eines Kampfes um die Deutungshoheit über Opfer und Täter.
Das wird im Roman detailliert und durchaus so thesenreich wie kontrovers diskutiert. Auf der Bühne kann das nur verkürzt geschehen, und so läuft die Inszenierung in eine doppelte Falle: einerseits in die der plakativ verkürzten Thesen, die auch gerne mit expressiver Wut ins Publikum geworfen werden (Wut ist per se gut, da berechtigt!), andererseits in die des Vortrags akademischer Thesen (hier über ethnische Identität), die stellenweise wie universitäre Vorlesungen wirken. Die Inszenierung bringt zwar die unterschiedlichen Standpunkte und Sichtweisen in Stellung, jedoch derart verkürzt und zugespitzt, dass eine analytische Abwägung in dem Stakkato der Argumente kaum noch möglich ist.
Darüber hinaus wird ein großer Teil dieser Thesen und Vorwürfe in englischer Sprache vorgetragen, wobei Tempo und Expressivität es auch einem sprachkundigen Publikum nicht leicht machen, dem Inhalt zu folgen. Mag sein, dass man die Ausführungen der englischsprachigen Urheber (Judith Butler?) im Sinne der Authentizität gerne originalgetreu wiedergeben wollte – doch der Verständlichkeit ist damit nicht unbedingt gedient.
Auch die im Roman als Beispiel durchaus zu Recht angeführten sexistisch-rassistischen Kalauer aus der untersten Schublade werden hier zum Problem, werden sie doch in ihrer originären Tonlage vorgetragen und erwecken damit unfreiwillige und damit zwiespältige Komik. An solchen Stellen scheint der Regie der zugespitzt provokative Witz wichtiger zu sein als seine fragwürdige Wirkung.
Das Ensemble zeichnet sich jedoch durch hohes Engagement und viel Spielfreude aus. Naffie Janha, offensichtlich selbst migrantischen Hintergrunds, spielt die Nivedita mit einem breiten Spektrum emotionaler Ausbrüche. Sie kann sich in Sekundenbruchteilen vom warmen Lächeln zum heulenden Elend verwandeln oder vom aufmerksamen Zuhören in gnadenlose Attacke übergehen. Patrick Leonhardt und Leonhardt Burkhardt scheinen nach den selben Kriterien ausgewählt zu sein und spielen Doppelrollen unterschiedlichen Geschlechts aus Niveditas Freundeskreis. Marielle Layher ist als Niveditas verehrte Göttin Kali vielleicht eine Idee zu laut – die leisen Töne fehlen völlig -, und Anna Böger bildet als Saraswati die ethnische und argumentative Gegenseite. Sie gibt vor allem den gebrochenen und doch um intellektuelle Klarheit bemühten Charakter dieser ambivalenten Titelperson wieder.
Wenn auch die Inszenierung gerade zum Schluss ein wenig unter einer predigtartigen Moralisierung leidet, bringt sie doch viele Aspekte des gegenwärtigen identitären Diskurses auf den Punkt und hütet sich vor schnellen Schuldzuschreibungen. Sie eignet sich vortrefflich als Ausgangspunkt für Diskussionen, bei denen man allerdings ein offenes Ende einplanen sollte.
Ungewollt sorgt dann die Theaterorganisation für die abschließende Pointe. Nach knapp zwei Stunden heftiger Auseinandersetzungen über ethnische Identität, kulturelle Aneignung und Ausgrenzung bittet ein Mitarbeiter des Theaters die Besucher am Ausgang um eine Spende für die leidende Ukraine. Das sind die echten Probleme unserer Zeit.
Frank Raudszus
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