Seit den Kreuzzügen besteht ein gespanntes Verhältnis zwischen dem Okzident und dem Orient, das sich vor allem durch seine Ambivalenz auszeichnet. Neben kriegerischen Auseinandersetzungen wie etwa den bereits erwähnten Kreuzzügen und dem heutigen Kampf gegen den Islamischen Staat hat der Orient jedoch aufgrund seiner Kreativität und Spiritualität schon immer eine kaum zu überschätzende Anziehungskraft auf den Westen ausgeübt. Der vorliegende Roman des Franzosen Mathias Enard widmet diesem Spannungsverhältnis eine epische Bühne von beeindruckender Tiefe und Breite.
Franz Ritter, der allein lebende Ich-Erzähler des Romans, hat sich als Musikwissenschaftler mittleren Alters auf orientalische Musik spezialisiert. Zur Handlungszeit des Romans lehrt er als aus seiner Sicht unbedeutender Wissenschaftler an der Universität und ist mit einer nicht näher definierten, aber chronischen Krankheit konfrontiert. Diese raubt ihm den Nachtschlaf und lässt seine Gedanken durch sein bisheriges Leben schweifen. Im Mittelpunkt dieses Lebens steht die Französin Sarah, begeisterte Orientalistin, die auch die kleinste Anregung in ihrem Forschungsgebiet aufnimmt und sofort weiterverfolgt. Sarah ist eine so attraktive wie intelligente Frau, die Franz vom ersten Augenblick an seine eigene – vermeintliche – Durchschnittlichkeit schmerzhaft bewusst werden ließ. Da er von Anfang an keine erotische Zukunft an ihrer Seite sah, bemühte er sich stets um eine wissenschaftlich angehauchte Freundschaft zu ihr, die sie auch dankbar erwiderte.
Soweit die unerfüllte Liebesgeschichte, die jedoch diesem Buch nicht als Zugeständnis an ein Kaufpublikum beigegeben ist, sondern selbst metaphorischen Charakter aufweist. Ritter schweift in dieser einen schlaflosen Nach weit zurück in die erste Zeit ihrer Bekanntschaft, als er sich wissenschaftliche Gründe ausdachte, die ihn an dieselben orientalischen Orte wie Sarah führen sollten So bereist er schon früh, noch vor dem Bürgerkrieg, die antiken und archäologischen Stätten Syriens mit ihr und lernt dabei Frühzeit und Gegenwart dieser Region kennen. Dem Autor des Romans gibt diese Konstellation die Gelegenheit, ausführlich auf die ältere und jüngere Literatur des nahöstlichen Kulturkreises einzugehen. Geschickt und ohne aufdringliche Bildungshuberei verpackt er dieses Wissen in die Gespräche mit der begeisterten Orientalistin Sarah und ihren Kollegen, mit denen sie die jeweiligen Regionen besucht. Die Eibettung in die nächtliche Schlaflosigkeit der Gegenwart lässt dabei die mäandernden Abschweifungen durch die Zeiten und Länder nachvollziehbar erscheinen, wirken sie doch wie die zwanghaft wandernden Gedanken eines Fiebernden, die jedoch im Einzelnen von gestochener Genauigkeit und Detailfreude sind.
Dabei lockert Enard das Geschehen auf, indem er Sarahs Orientalistik-Kollegen ebenso viel Raum einräumt wie ihr. Da ist der alternde Professor, der sein Leben dem Orient wie einer Droge gewidmet hat und unter einer persönlichen, erotisch gefärbten Schuld leidet. Denn die Erotik spielt in diesem Bild des Orients eine weit größere Rolle als im rationalen Okzident und durchwirkt nicht nur das Verhältnis der Geschlechter, sondern das gesamte – ästhetische – Leben. Dann ist da der junge Wissenschaftler, der über Prostitution und Drogen im Orient forscht und seinem Forschungsgegenstand in wörtlichem Sinne verfallen ist. Enard lässt eine breite Palette von Charakteren Revue passieren, denen allen eigen ist, dass sie in gewisser Weise dem Orient verfallen sind und sich nicht mehr von ihm lösen können. Darum kehren sie auch nicht zurück in ihre Heimatländer, etwa Frankreich, denn ihre gefühlte Heimat ist längst der Orient, doch mit der Wirkung einer Droge. Alle sind auf ähnliche Weise glücklich unglücklich und drehen sich emotional im Kreise.
Ritter spielt dabei stets den okzidentalen Gegenpart, indem er zwar über musikologische Themen spricht, aber im Grunde nur Sarah meint. Seine Person ist auf mehrfache Art metaphorisch: erinnert sein Nachname vielleicht nur zufällig an (okzidentale) Kreuzritter – aber er erinnert daran! -, so verweist die Tatsache, dass er als Musikologe kein Instrument spielt, auf den kopfgesteuerten Westen. Sarah dagegen ist in ihrem ganzen Wesen ein ebenso metaphorisches Abbild des Orients, wie Enard ihn sieht: neugierig, begeisterungsfähig, spirituell und spontan. Ihre Erotik scheint dem Leben, aber nicht dem Mann – sprich Ritter – zu gelten. Sie kann es an keinem Ort länger aushalten, vor allem in Europa, und erinnert an einen weiblichen „Sindbad, den Seefahrer“. Auch scheint sie die erotische Verehrung durch Ritter gar nicht zu bemerken und sieht in ihm anscheinend nur ihren besten Freund. Auch dieses Verhältnis der beiden fügt sich in das antagonistisch-ambivalente Verhältnis der beiden Kulturkreise ein. Der Okzident, hier vertreten durch die Orientalisten, sucht die Nähe des Orients, aber dieser entzieht sich ihm immer wieder aufgrund seiner eigenen, anders gelagerten Spiritualtität. In diesem Sinne erweist sich auch Ritters Erkrankung als eine metaphorische des Okzidents, und es bleibt offen, ob noch genügend Zeit für eine fruchtbringende Beziehung zwischen den beiden bleibt.
Für der Orientalistik nicht kundige Leser klingen die Namen der orientalischen Dichter und Musiker fremd, doch Enard gelingt es, sie durch geschickte Einbettung in das Handlungsgeschehen und die Gespräche zum Leben zu erwecken. Bei nicht wenigen Lesern werden sie auch die Neugierde und den Wunsch zur eigenen Beschäftigung mit ihnen wecken. Enard verzichtet dabei auf zu viele und immer neue Namen, sondern erwähnt die wichtigsten – etwa Hatif oder Hedayat – auf wiederkehrende Weise in verschiedenen Konstellationen, so dass man im Laufe der Romanlektüre einen gewissen Überblick über die alte und neuere Literaturlandschaft vor allem des Irans erhält. Denn nach den syrischen Abenteuern spielt ein Großteil von Ritters Erinnerungen in Teheran, wo er sogar einmal Sarahs erotische Zuneigung erfährt. Doch danach zerstört der plötzliche Tod ihres Bruders in Paris die gerade erreichte Nähe. Dies wäre in einem normalen Roman einfach nur die nötige Prise Tragik, um die Spannung zu erhöhen. Hier spielt aber auch der Tod des Bruders eine metaphorische Rolle, nämlich die des islamistischen Terrors, der die Beziehungen zwischen Orient und Okzident schlagartig änderte. Die Tatsache, dass der Bruder in Paris stirbt, lässt sich als Beleg dieser Metaphorik deuten.
Wenn die schlaflose Nacht dem Ende entgegen geht, fragt man sich natürlich, wie der Autor die Geschichte enden lässt. Stirbt der okzidentale Ritter oder gibt es doch ein hoffnungsfrohes Wiedersehen? Die zu Beginn der Bekanntschaft zwischen Franz und Sarah ausgetauschten Briefe werden in den letzten Kapiteln zu E-Mails, die sich natürlich wesentlich glaubwürdiger in eine Nacht integrieren lassen. So lässt der Autor auch die aktuelle Moderne ein wenig zu Wort kommen. Und auf den letzten Seiten gibt es dann doch die Pointe eines Funkens Hoffnung, die wir hier aber nicht verraten wollen. Wer die Lektüre bis hierin geschafft hat und sich von den literaturwissenschaftlichen Abschweifungen des Orientalismus nicht hat ermüden lassen, der kehrt am Ende von einer langen, bilder- und gedankenreichen Reise durch den Orient zurück in die okzidentale Wirklichkeit.
Das Buch ist als Taschenbuch im Piper-Verlag erschienen, umfasst 427 Seiten und kostet 14 Euro.
Frank Raudszus
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