Der 2021 erschienene Roman „Blaue Frau“ von Antje Rávik Strubel erzählt die Geschichte der jungen Adina, die aus der Abgeschiedenheit ihres tschechischen Heimatdorfes im Riesengebirge nach Berlin aufbricht, um die Welt des Westens kennenzulernen. Diese Welt aber wird ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben grundlegend erschüttern.
Auf ihren Stationen in Berlin, in der Uckermark und schließlich in Helsinki wird sie erfahren, dass die Menschen, denen sie vertraut, hinter der äußeren Oberfläche ganz andere Ziele und Interessen verfolgen, als sie vorgeben. Es geht um die kulturellen Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa, um die unterschiedlichen Erinnerungen, um die Herablassung der Westler und grundsätzlich um den Widerspruch zwischen der Betonung der Menschenrechte in dieser westlich-demokratischen Welt einerseits und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen andererseits. Vergewaltigung ist in dieser Welt immer noch ein Kavaliersdelikt, das selten bestraft wird, eher wird das Opfer zum Täter gemacht. Es ist eine Welt, in der jemandem, der vorgibt, bestohlen worden zu sein, eher geglaubt wird als einer Frau, die behauptet, vergewaltigt worden zu sein.
Antje Rávik Strubel reißt dem auf seine Orientierung an den Menschenrechten so stolzen Westen mit der Geschichte der Adina die Maske herunter und entlarvt das große Getöse und internationale politische Brimborium als teilweise verlogen. Das ist harter Tobak, wird aber an Adinas Geschichte nur allzu sichtbar.
Raffiniert ist der Aufbau des Romans, der sehr aufmerksames, eigentlich mehrfaches Lesen erfordert.
Es gibt drei Handlungsebenen. In der Gegenwartshandlung, die sich über etwa zwei Wochen in den 2010er Jahren in Helsinki erstreckt, erleben wir die junge Adina allein in einer Plattenbauwohnung. Diese Handlungsebene ist im Präsens erzählt und holt uns ganz nah an das Geschehen heran. Adina will eine Aussage machen und kämpft mit dem Entschluss, denn sie müsste sich an eine Organisation wenden. Man ahnt, dass ihr etwas Schlimmes widerfahren ist, die tatsächlichen Ereignisse bleiben jedoch noch verborgen. Erzählt wird aus Adinas Perspektive, aber in der dritten Person.
Erst nach und nach erfahren wir den Hintergrund ihrer Geschichte, der sie nach Helsinki geführt hat. Es ist eine Geschichte der Aufbrüche und Fluchten. Die Stationen ihrer Vergangenheit werden im Präteritum erzählt, mit größerem Abstand. Es ist wie ein therapeutischer Erinnerungsprozess, auch in der dritten Person erzählt, in dem Adina sich klarzumachen scheint, was ihr widerfahren ist.
Zunächst hören wir von Leonides, dem estnischen Kämpfer für die Menschenrechte im Rahmen europäischer Organisationen. Ihm ist sie durch Zufall in Helsinki begegnet, als sie als Aushilfskraft in einem Hotel gearbeitet hat. Mit ihm, dem etwa 20 Jahre Älteren, geht sie eine Beziehung ein, die durchaus nicht auf Augenhöhe ist, aber von großer Zuneigung getragen ist. Es verbindet sie die Herkunft aus nachsowjetischer, osteuropäischer Kultur, wenn auch ihre individuellen Erfahrungen und Lebenssituationen sehr unterschiedlich sind. Leonides ist für Adina der Welterklärer. Die sowjetische Zeit sei eine „Kultur der Angst gewesen“, die westliche Welt sei eine „Kultur der Kälte“. Ihm geht es um die Aufklärung der „Dunkelstellen“ der Geschichte der Systeme.
Aus dieser Beziehung flüchtet Adina, die von Leonides Sala genannt wird, abrupt nach einer für sie traumatischen Begegnung in die Anonymität der Plattenbausiedlung, in der wir sie am Beginn des Romans kennenlernen.
Rückwärts geht es in Anides Erinnerungen in ihre Kindheit und Jugend an der tschechisch-polnischen Grenze, wo sie mit ihrer Mutter lebt. Als letzter Teenager in ihrem Dorf flüchtet sie sich in den virtuellen Chatroom „Rio“, um sich überhaupt austauschen zu können. In Anlehnung an Coopers Lederstrumpf-Roman nennt sie sich der „letzte Mohikaner“, denn sie fühlt sich nirgendwo zugehörig. Auch in ihrem kleinen Heimatort treffen Ost und West aufeinander. Hier sind es die westlichen Ski-Touristen, die wie Kolonialherren auftreten. Den einheimischen Tschechen geben sie das Gefühl, Menschen zweiter Klasse zu sein, die gut genug sind, ihnen den Liftbügel unter den Po zu schieben, sonst aber nicht ernst zu nehmen sind.
Der Aufbruch in die Welt des Westens scheint Adina wie ein Versprechen, und so macht sie sich auf Richtung Berlin, dem ersten Sehnsuchtsort der Ostler. Diese zweite Lebensstation kommt eher einer Überwältigung gleich, denn hier treffen die unterschiedlichsten Lebensstile aufeinander, die sie verwirren und orientierungslos machen. Sie trifft auf eine Gruppe alternativer Frauen, die einer losen kreativen Szene angehören. Hier wird mit allem gespielt, auch mit Beziehungen. Halt glaubt Adina bei der Fotografin Rickie zu finden, die erkennt, dass hinter dem naiven Dorfmädchen eine durchaus zielbewusste Persönlichkeit steckt, die aufbrechen kann und will. Sie erkennt den „Mohikaner“ in Adina. Rickie verschafft der in Berlin Gestrandeten einen Job in der Uckermark als Praktikantin auf einem alten Gut, das zu einer Residenz für Exilstipendiaten aus Osteuropa ausgebaut werden soll.
Das ist der nächste Aufbruch, der neue Erfahrungen verspricht. Auch diese Station erweist sich jedoch als Irrweg. Statt interessanter Begegnungen und anspruchsvoller Tätigkeit, in der sie ihre Sprachkenntnisse anwenden könnte, wird sie zu stupiden Hilfsarbeiten eingesetzt. Sie bleibt auch hier das Mädchen aus dem Osten. Weil es attraktiver ist, wird sie kurzerhand zur Russin ernannt. Auch ihr Name Adina ist zu umständlich, man verpasst ihr den kürzeren Namen Nina. Auf diesem alten Gutshof soll ein Konzept für die aufstrebende osteuropäische Jugend entwickelt werden, das großer Fördermittel würdig sein soll. Das erweist sich als Trugschluss, denn in diesem äußersten Osten, ganz nahe an der polnischen Grenze, will niemand investieren. Für Adina endet dieser Aufenthalt mit einer Katastrophe: Sie wird von einem der avisierten Förderer brutal vergewaltigt und misshandelt. Schutz gibt es nicht, die einzige Frau verweigert die Hilfe. Es bleibt ihr nur der neuerliche Aufbruch, der diesmal eine Flucht ist, eine Flucht in den Norden, weit weg, wo es dunkel ist und wo sie glaubt, alle Erlebnisse hinter sich lassen zu können. Sie wird in Helsinki eher angespült, eine wahre Ankunft ist es nicht.
Der letzte Teil des Romans knüpft an den Anfang an. Anida taucht aus der Welt der Erinnerung auf. Es scheint, dass sie die Erlebnisse der Aufbrüche und Fluchten noch einmal durchleben musste, um nun wirklich die Kraft zu finden, aktiv zu werden, um Gerechtigkeit zu finden und den Täter zu stellen.
In Kristiina, einer Parlamentarierin, die mit aller Kraft gegen Ausbeutung, Ungerechtigkeit und seelische Versklavung kämpft, findet Adina eine Ansprechpartnerin. Zum ersten Mal gelingt es ihr zu artikulieren, was ihr widerfahren ist. Kristiina ist bereit, mit ihr zusammen den Kampf vor Gericht aufzunehmen, auch wenn er aus aller gerichtlichen Erfahrung mit Vergewaltigungsprozessen aussichtslos erscheint. Aber Adina hat einen eigenen Plan. Ob sie den umsetzt, bleibt am Ende offen.
Es ist ein Roman, der von der Schwierigkeit zu reden erzählt. Wie kann ein Mensch artikulieren, was ihn wirklich bewegt? Wie kann er über ein Trauma sprechen, für das es keine Worte gibt? Wer hört einem anderen wirklich zu, wer sieht wirklich die Not des anderen statt nur die Möglichkeit, sich selbst als Gutmensch zu inszenieren? Wer hilft dabei, dass ein Mensch sich selber helfen kann?
Die Schwierigkeit, eine Geschichte zu erzählen, ist das Thema der dritten Ebene des Romans. In 34 Episoden wird die Erzählung der Handlung unterbrochen mit dem Auftreten der „blauen Frau“, die im Dialog mit einer Ich-Erzählerin – ist es die Autorin? – steht. Die blaue Frau erscheint in unregelmäßigen Abständen in einem unwirtlichen Hafengebiet in Helsinki, wo Segelboote zur Reparatur lagern, wo Schrottschuppen und rostige Gleise die Begegnung erschweren. Die Welten der Ich-Erzählerin und der blauen Frau sind durch den dunklen Tunnel einer Unterführung getrennt, aus der man ins Licht tritt.
Auf einer Meta-Ebene wird hier über das Schweigen und das Reden gesprochen, der Fortgang der Romanhandlung wird reflektiert, alles mehr in sentenzenhaften Andeutungen als in argumentativer Erörterung.
Bis zum Schluss bleibt die Funktion dieser Konstruktion unklar. Hat die blaue Frau einen konkreten Bezug? Oder ist sie eher das alter ego einer Autorin, die mit ihrem Stoff und ihren Figuren kämpft? Oder ist sie am Ende gar der Entwurf einer älteren Adina, die endlich reden kann und sich die Geschichte von der Seele reden kann? Ist das die Aufgabe des Romans, die Menschen zum Sprechen zu bewegen?
Gewollt ist wohl, möglicherweise in Anlehnung an Brechts Verfremdungseffekt, die Unterbrechung des Leseflusses, um die Leserin immer wieder aufzustören und sie zum Innehalten zu zwingen. Dieses Innehalten hat die Autorin allemal verdient. So subtil sind die Bezüge, die sie herstellt, sind die Motive, die den Roman durchziehen, dass sie beim nur handlungsorientierten Lesen verloren gingen.
Am Schluss bleiben wir als Leserinnen – und wohl auch als Leser – unschlüssig, ob wir resignieren sollen angesichts einer männerdominierten Welt, in der die Frau trotz aller Emanzipation immer noch unterlegen ist. Oder ist Adina ein Modell für eine neue Frauengeneration, die die Kämpferin – den Mohikaner – in sich nie aufgibt und ihren eigenen Weg der Selbstbehauptung geht, solange sie Solidarität der anderen Frauen erlebt?
Sollen wir misstrauisch sein gegenüber allen Bestrebungen großer und kleiner Organisationen, die sich für Menschenrechte einsetzen, nur weil es Menschen gibt, die diese Einrichtungen für den eigenen Vorteil nutzen und im Privaten gegen die öffentlich vertretenen Ziele massiv verstoßen?
Ich bin sicher, dass Antje Rávik Strubel die Kämpferin in uns ermutigt, die aufmerksam durch die Welt geht und aufschreit, wo ihr Unrecht begegnet. Selber das Messer in der Tasche haben wie Adina, es aber schließlich nicht benutzen, weil es andere Mittel der Gegenwehr gibt. Und im Gespräch bleiben, das ist die wichtige Botschaft.
Darüber hinaus ist es die Begegnung mit Finnland, dem nordöstlichsten Land Europas, wo sich Ost und West unmittelbar begegnen und wo die Widersprüche der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme aufeinander treffen. Die Autorin vermittelt uns einen Einblick in diese besondere Welt. Gibt es sonst ein Land, in dem ein Staatspräsident seine Staatsgäste nackt in der Sauna empfängt?
Wer sich auf den Roman einlassen will, sollte sich Zeit nehmen, um die Feinheiten zu erkennen. Wer noch mehr Zeit hat, liest ein zweites Mal. Es lohnt sich!
Der Roman ist im S. Fischer Verlag erschienen, hat 428 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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