Das dritte Sinfoniekonzert der Saison des Staatstheaters Darmstadt im pausenfreien Corona-Format widmete sich – zumindest in den Randwerken – einer speziellen Art der programmatischen Musik. Dazu hatte man die Engländerin Sian Edwards als Dirigentin eingeladen, ging es in diesem Konzert doch um gebürtige englische Komponisten und Wahl-Engländer.
Am Anfang stand die 1973 geborene Tansy Davies, die für ihre unerschrockenen Mischungen verschiedenster aktueller Musikstile bekannt ist. In dem 2017 entstandenen einsätzigen Stück „Dune of Footprints“ verarbeitet sie die Eindrücke einer Führung durch französische Höhlen mit vorzeitlichen Wandmalereien auf musikalische Weise. Man kann sich die Situation lebhaft vorstellen: der Weg führt durch ein nur von Taschenlampen schwach beleuchteten, engen und gewundenen Trampelpfad unterschiedlichster Beschaffenheit, man hört tropfendes Wasser, schwache Echos der eigenen Schritte und andere unterirdische, nicht genau lokalisierbare Geräusche. All das setzt Davies in eine orchestrale Collage unterschiedlichster Klangflächen um. Gleich zu Beginn schrammeln die Bässe tief unten am Bund zu einem gleichtönigen Flirren der Streicher. Die Tonlage ändert sich über die Zeit nur minimal, und ausgeprägte musikalische Motive oder gar Themen sucht man vergebens, so wie auch die unterirdischen Höhlen keine deutlichen Strukturen zeigen. Die Zuhörer erleben das Tasten im Dunkeln der Höhle klanglich am eigenen Leibe, sprich Ohr. Das Wechselspiel zwischen tremolierenden Geigen und brummenden Bässen wiederholt sich in verschiedenen harmonischen Varianten, dabei das Gefühl des tastenden Voranschreitens über einen schwierigen Pfad nachempfindend. Eine gute Viertelstunde lang dauert dieser musikalische Höhlengang, und dem Orchester gelang es, die Spannung trotz der weitgehend gleichförmigen Dynamik dank der sparsamen, aber intensiven Stabführung der Dirigentin nicht zu verlieren.
Der zweite Programmpunkt versetzte das Publikum um nahezu zweihundertfünfzig Jahre zurück. Joseph Haydns Sinfonie Nr. 85 aus dem Jahr 1785(!) zeigt noch viele Eigenschaften der Frühklassik, vor allem, wenn man sie mit Mozarts Sinfonien des gleichen Zeitraums vergleicht. Tempi und Dynamik erinnern noch ein wenig an das gravitätischen Schreiten des Barocks und entwickeln bei weitem nicht die Kontraste wie etwa die „Haffner“, „Linzer“ oder „Prager“ des jüngeren Zeitgenossen. Der erste Satz schreitet, nach einem gemessenen Adagio-Auftakt, im lebhaften 6/8-Takt vorbei, wobei die exakte Akzentuierung durch das Orchester hervorzuheben ist. Das markante absteigende Thema prägt dabei in verschiedenen Variationen den gesamten Satz. Die Romanze erscheint dank dem zügigen Tempo eher hellsichtig denn lyrisch. Man merkt auch hier den Einfluss der höfischen Auftragsmusik, die als Unterhaltung und nie als seelische Tiefenforschung gedacht war. Das Menuett hätte eine Spur lebhafter genommen werden können, um wirklich tänzerische Qualität zu entwickeln, Aber auch das wollte man zu Haydns Zeit wohl nicht: zum Tanzen aufgefordert werden. Trotz eines Tanzes als Grundlage diente die Musik eher als Hintergrund des gesellschaftlichen Lebens, das sie nie ganz für sich einnehmen durfte. Erst der Finalsatz bringt dann ein wirklich frisches Tempo, wie es einem Finale entspricht. Bei der Intonation des Orchesters fiel vor allem die exakte Bogenführung der Streicher sowie die feinfühlige Intonation aller Instrumentengruppen auf. Nach den klanglichen Extremen des ersten Stückes bildete Haydns Symphonie einen Ruhepol in der Mitte des Konzerts.
Den Abschluss und gleichzeitig Höhepunkt des Abends bildeten dann die im Jahr 1899 entstandenen vierzehn „Enigma“-Variationen des Engländers Edward Elgar (1857-1934). Einer Anekdote zufolge entwickelte sich diese Komposition aus einer spontanen abendlichen Improvisation am Klavier anlässlich eines Gesellschaftsabends im Hause Elgar. Der Komponist charakterisierte mit diesen vierzehn Variationen verschiedene Personen seines Freundes- und Bekanntenkreises. Die Titel der einzelnen Variationen bestehen dabei aus den Initialen oder Pseudonymen der jeweiligen Vorbilder. Dabei schreitet Elgar das gesamte Spektrum musikalischer Dynamik, Themenfindung und Orchestrierung ab. Die Variationenfolge beginnt mit einer leidenschaftlichen Liebeserklärung an seine Frau, schreitet fort über die Nachbildung der virtuosen Fähigkeiten eines Pianisten-Freundes, die forsche Art eines Gutsbesitzers, den vitalen Charakter eines Architekten bis zu einer perlenden, ballettähnlichen Charakterisierung einer grazilen Frau. Auch Beethovens langsame Sätze werden in einem musikalischen Gespräch mit einem Musikerfreund thematisiert, wobei man entsprechende Zitate beethovenscher Musik zu erkennen glaubt. Auf ähnliche Weise zitiert Elgar Mendelssohns „Meeresstille und glückliche Fahrt“, als es um eine – per Schiff! – nach Australien ausgewanderte Frau geht. Den Schluss bildet eine musikalische Selbstspiegelung des Komponisten, die ein durchaus selbstbewusstes weil sich dynamisch steigerndes Zeugnis seiner kompositorischen Fähigkeiten abgibt.
Elgar konnte in diesen so unterschiedlichen Variationen sein gesamtes musikalisches und speziell orchestrales Können ausbreiten, und das Ergebnis zeigt die große Bandbreite dieser Fähigkeiten. Für eine Orchester und seine Dirigentin ist dies ein Paradestück, um das eigene interpretatorische Können zu beweisen. Sian Edwards und das Orchester des Staatstheaters Darmstadt wurden dieser Herausforderung mehr als gerecht und bewiesen in allen dynamischen, klanglichen und instrumentalen Passagen ihre Erfahrung, Spielfreude und hervorragende Abstimmung. Vor allem Elgars „Enigma“-Variationen machten dieses Konzert zu einer in jeder Hinsicht „runden“ musikalischen Angelegenheit.
Das Publikum zeigte sich ausgesprochen angetan und spendete kräftigen, lang anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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