Den 2020 auf Schwedisch erschienenen Roman „Överlevarna“ von Alex Schulman hat nun der dtv Verlag unter dem Titel „Die Überlebenden“ in der deutschen Übersetzung von Hanna Granz herausgebracht.
Alex Schulman erzählt die Geschichte eines Familiendramas, das sich vor der Kulisse scheinbarer Idylle und Harmonie abspielt und das die drei Söhne ein Leben lang prägen wird. Der letzte Urlaub im Sommerhaus der Familie endet mit einem Unglück, das die ganze Familie traumatisieren wird.
Die Romanhandlung hat zwei Zeitebenen, die miteinander verschränkt sind. Die Gegenwartshandlung verläuft an einem Tag, dem Tag der geplanten Beerdigung der Mutter. Im Zweistundentakt werden die Ereignisse der 24 Stunden dieses Tages erzählt, und zwar entgegen der Chronologie, Beginn um 23.59 Uhr.
Jeweils abwechselnd damit verlaufen die von der Hauptfigur Benjamin erinnerten Ereignisse in der Kindheit. Diese chronologische Erzählung erweist sich als der Erinnerungsprozess in einer Therapie. Beide Zeitebenen stoßen um 0 Uhr des Beerdigungstages zusammen, und zwar am Ende des Romans. Diese zeitliche Konstruktion erfordert hohe Lesekonzentration, will man die Bezüge und Verknüpfungen richtig erfassen.
Der Roman beginnt mit dem Ende, es ist 23.59 Uhr des Beerdigungstages. Schon dieses Eingangskapitel verweist auf den Gegensatz von idyllischer Außenwelt und der konfliktreichen Innenwelt der Menschen, die hier zusammentreffen. Die drei Brüder sind nach Jahrzehnten in das Sommerhaus der Familie zurückgekehrt, weil die Mutter sich in einem Abschiedsbrief gewünscht hat, dass ihre Asche im See vor dem Haus verstreut wird. Sie will nicht, wie von den Brüdern ursprünglich geplant, in der Familiengrabstelle neben ihrem Mann liegen.
Schulman beginnt in fast Fontane’scher Manier mit der genauen Beschreibung des „Schauplatzes“: Es ist das typische schwedische Sommerhaus, rotes Holz, weiße Giebel, alles etwas verwittert, einsam gelegen am See mit Boot, Saunahaus und Stall. Der Zugang ist erschwert, es gibt nur einen Kiesweg mit einer alten Traktorspur, über den man dieses abgelegene Grundstück erreichen kann.
Dieses Sommerhaus ist „ein unzugänglicher Ort“, wie eine abgeschiedene Insel, auf der die Familie ohne äußere Einflüsse auf sich selbst verwiesen ist. Im letzten Familiensommer hat der Vater sogar das Fernsehen verbannt.
Der Tag der Wiederbegegnung endet mit einem brutalen Gewaltausbruch zwischen dem jüngsten und dem ältesten der drei Brüder. Die Ereignisse der Kindheit und alte Rivalitäten brechen sich unkontrolliert Bahn. Sie haben nie gelernt, miteinander zu sprechen, stattdessen wurden die Ereignisse des letzten gemeinsamen Sommers verdrängt. Am Schluss des Tages steht dann doch die Umarmung und damit Hoffnung auf eine neue Annäherung, Hoffnung auf einen Neubeginn im Gespräch, mit dem mittleren Bruder als Vermittler.
Die zweite Handlungsebene enthält Benjamins therapeutischen Erinnerungsprozess. Der erste Teil schildert das Leben im Sommerhaus, der zweite Teil die völlig veränderte Familiensituation in der Stadt nach dem Unglück.
Der sich erinnernde Benjamin schildert ein Familienleben in der sommerlichen Einsamkeit, das von dem Bemühen der Eltern geprägt ist, den Kindern eine unbeschwerte Erlebniswelt zu ermöglichen. Dieses Bemühen bleibt jedoch immer wieder in Ansätzen stecken, denn die Eltern sind sich nicht einig. Der Vater ist ein Naturmensch, der keine anderen Menschen braucht. Die Mutter hingegen scheint diese Abgeschiedenheit eher abzulehnen, sie ist ständig gereizt, oft schrill, jähzornig und ungerecht. Sie wird später, nach dem Tod des Vaters, ein ganz anderes Leben in der Stadt führen. Die Eltern haben wenig Gemeinsamkeiten, außer dem Hang zum Alkohol und dem gemeinsamen abendlichen Genuss des Sonnenuntergangs am See. Sie sitzen allerdings nur deshalb nebeneinander, weil sie so beide den gleichen guten Blick haben.
Diese Eltern wollen sich kümmern, sind aber immer in einem alkoholisierten Nebelzustand, so dass sie die Kinder zwar zu Aktivitäten ermuntern, sie dann aber alleine lassen.
Die drei Kinder, im Unglückssommer sieben, neun und dreizehn Jahre alt, arrangieren sich auf ihre Weise mit der Lebensform ihrer Eltern. Der Älteste flüchtet aus dem „Irrenhaus“ in die Hängematte und liest. Er ist der Intellektuelle unter den Kindern, der von den anderen beiden wegen seiner Hässlichkeit oft gepiesackt und ausgegrenzt wird. Der Jüngste ist von vitaler Körperlichkeit, die sich in der Neigung zu Prügeleien und sadistischen Spielen entlädt. Benjamin, der Mittlere, ist ein Kind, das immer etwas neben den Ereignissen steht, eher beobachtet als handelt, dem der Realitätssinn oft entgleitet. Er ist besonders empfänglich für die unterschwelligen Spannungen in der Familie, ohne davon ein Bewusstsein zu haben.
Die Gegenwelt ist die das Haus umgebende Natur. Die Geheimnisse des dichten Fichtenwaldes und des Birkenhains ziehen Benjamin magisch an, als der Vater ihm und dem kleinen Bruder vorschlägt, auf Abenteuersuche im Wald zu gehen. Wie Hänsel und Gretel verirren sich die Kinder, von den Eltern alleine gelassen. Wie bei Hänsel und Gretel gibt es auch im dichter werdenden Wald zunächst Wegweiser: Es sind die schwarzen Stromkabel, die sie zu einem Trafohäuschen mitten im Wald führen. Die Außenwelt ist mit der Technik in die Abgeschiedenheit eingedrungen, die Wirklichkeit lässt sich nicht ausschalten. Droht hier den neugierigen Kindern Gefahr wie beim Hexenhäuschen im Märchen? Benjamin nimmt das Brummen des fließenden Stroms in den Kabeln ebenso wahr wie das Rauschen des Waldes. Die vielen rätselhaften Geräusche haben eine magische, verwirrende Wirkung auf ihn. Gerade jetzt bräuchte er den Schutz der Eltern. Als die Kinder die Stromkabel aus dem Blick verlieren, sind sie ganz ohne Orientierung. Erst die Geräusche des Mopeds des zurückkehrenden Bruders führen sie wieder auf den Weg nach Hause. Die Eltern haben inzwischen gar nicht wahrgenommen, dass ihre Kinder verschwunden waren.
Der erste Teil endet abrupt mit dem Unglück. Es ist das Ende der Urlaube im Sommerhaus, das Ende des Lebens in der Abgeschiedenheit der Natur.
Der zweite Teil erzählt vom Leben in der Stadt, vom zunehmenden Auseinanderdriften der Familie. Benjamin erinnert sich, dass er keine Möglichkeit sieht, das noch zu reparieren, als schließlich der große Bruder die Familie verlässt. Auch die Eltern haben offenbar keinen Halt mehr, die Wohnung verwahrlost, die Kinder sind sich selbst überlassen. Erziehung findet nicht mehr statt. Nach dem Tod des Vaters beginnt die Mutter ein völlig neues Leben und setzt damit ein Zeichen, dass sie mit dem Vater in einem falschen Leben war. Auch die Brüder entfremden sich.
Im Erinnerungsprozess wird Benjamin bewusst, dass er sein ganzes Leben nach der heilen Familie gesucht hat, dass er sich nach der Liebe von Mutter und Vater gesehnt hat und nach Nähe zu den Brüdern. Das Unglück hat alle innerlich versteinert, gesprochen wird über die Ereignisse überhaupt nicht.
Was die Familie nicht leisten kann, muss die Therapie übernehmen. Es bleibt die Frage, ob sie wirklich heilen kann.
Ob es nach dem Tod der Mutter eine neue Gemeinsamkeit für die Brüder geben wird, ob sie werden sprechen können, bleibt als vage Hoffnung. In den 24 Stunden des Beerdigungstages sucht Benjamin immer wieder das Gespräch. Einiges klärt sich, doch es zeigt sich, dass Erinnerung trügerisch ist, denn jeder erinnert sich anders an die Ereignisse. Ein vorsichtiger Anfang ist gemacht, erste Geständnisse werden gewagt. Wie weit tief Verdrängtes den Weg in ein neues Bewusstsein finden kann und damit zu neuer Nähe führen kann, bleibt die Frage.
Schulmans Roman ist damit auch eine Erzählung der Schicksalhaftigkeit von Geschwisterbeziehungen, deren immer wieder neue Interpretation durch die Beteiligten sich bis ins Erwachsenenalter, oft bis ins hohe Alter, zieht. So tragen auch diese drei „Überlebenden“ die großen Wunden, aber auch die schönen Erlebnisse ihrer Kindheit immer in sich.
Schulmans Roman fesselt zum einen mit der Thematik, aber auch mit der sehr kunstvollen Gestaltung. Von Anfang an geben wiederkehrende Motive Hinweise auf das innere Desaster der Familienmitglieder, die sich alle nach Liebe, Wärme und Nähe sehnen, aber sie nicht erhalten.
Wie kunstvoll der Roman gebaut ist, erschließt sich erst richtig beim zweiten Lesen, wenn das Wissen um den Handlungsverlauf den Blick frei macht für die metaphorischen Verweise, die weitere Verstehensebenen öffnen.
Insgesamt ist das ein außerordentlich lesenswerter Roman, der mich lange nicht losgelassen hat.
Das Buch ist im dtv Verlag erschienen, übersetzt aus dem Schwedischen von Hanna Granz. Es hat 304 Seiten und kostet 22 Euro.
Elke Trost
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