Edgar Selge gilt als einer der bedeutendsten Charakterdarsteller Deutschlands. Den meisten deutschen Fernsehzuschauern ist er als einarmiger Kommissar in der Serie „Polizeiruf 110“ bekannt. Nun hat er sich ans Romanschreiben gewagt und einen Teil seiner Familiengeschichte erzählt. Er widmet diese sehr persönliche Niederschrift seinen Brüdern, lässt aber auch uns Leser an den Anfängen seines Lebens teilhaben.
ist das wirklich interessant zu lesen, oder wollte hier ein Schauspieler nur eine weitere neue Rolle in seinem Leben ausprobieren? Sicherlich wollte er das auch, aber im Grunde genommen ist das Aufschreiben seiner Autobiographie eine Suche nach sich selbst. Selge versucht, seine Eltern zu begreifen und seinen Platz im Ranking der Geschwister zu finden.
Der Roman spielt in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Der kleine Edgar hat noch drei ältere Brüder und einen jüngeren Bruder, Andreas. In dem testosterongeprägten Haushalt herrscht ein sehr strenger Vater auf autoritäre Weise. Die Familie lebt auf dem Gelände einer Jugendstrafanstalt, die Edgars Vater leitet. Neben seiner Rolle als Gefängnisdirektor ist der Vater ein guter Pianist und übt in jeder freien Minute an seinem Flügel. Er gibt ständig Hauskonzerte für die jungen Strafgefangenen in seinen privaten Räumen. Dazu lädt er um die achtzig der etwa vierhundert Insassen ein. Das Haus wird umgeräumt, so dass alle einen Sitzplatz finden. Anschließend gibt es für alle Leberwurstbrot und Apfelsaft, die Edgars Mutter zubereitet hat. Vor dem Konzert herrscht eine angespannte Atmosphäre im Haus der Selges, denn alles will organisiert sein. Der Vater steht besonders unter Druck, und es gibt immer wieder schwierige Passagen, die er wie besessen übt. Nicht alles gelingt ihm so perfekt, wie sein hoher Anspruch es erfordert.
Edgar ist noch klein, nimmt all diese Spannungen in seinen schmächtigen Körper auf und verfolgt das emsige Treiben aufmerksam. Durch ein Schlüsselloch beobachtet er, wie sein strikter Vater die Verbeugung am Flügel ohne Publikum übt, und denkt sich „das bin ja ich!“. Sieht er sich da schon als zukünftiger Schauspieler?
Edgars älterer Bruder Werner sieht den Vater und sein Klavierspiel kritisch und weist Edgar darauf hin, dass der Vater beim Üben dem Metronom davoneilt. Werner spielt selbst Cello und studiert seit kurzem Musik. Er lacht heimlich über den Dilettantismus des Vaters. Der kleine Edgar geht noch in die Grundschule und lässt alles auf sich einwirken, hat aber noch nicht den Überblick wie der ältere Bruder. Für ihn ist der Vater streng, prügelt mit dem Rohrstock, wenn Edgar nicht spurt, und verlangt Respekt. Edgar fragt sich, ob der Vater vielleicht davon träumt, Pianist zu werden. Der Kleine lauscht der Klaviermusik und entwickelt dadurch einen Sinn für die Schönheit der Musik. Er staunt darüber, wie das Spielen nach Noten erst die Musik hervorbringt.
Wenn er nichts zu tun hat, sitzt Edgar oft auf einem Baum im Obstgarten und imitiert Flieger, die Bomben abwerfen. Er ist ein typisches Nachkriegskind, und die Spiele sind entsprechend. Bei seinem älteren Bruder ist die Suche nach alter Munition eine tägliche Beschäftigung. Er findet schließlich zufällig eine scharfe Handgranate, mit der er sich selbst unabsichtlich umbringt. Der Tod des Bruders ist ein Trauma für die ganze Familie und hinterlässt bei allen seelische Schäden.
Selges Romandebut ist prall und lebendig erzählt. Neben viel Ernsthaftem gibt es immer wieder lustige Anekdoten, die dem Buch viel Frische verleihen. Wie Selge Vater und Mutter beschreibt, ist durchaus kritisch, hat aber nichts mit einer Abrechnung zu tun. Er ist ein stiller Beobachter der familiären Situation und findet trotz der strikten Reglementierung, vor allem durch den Vater, immer wieder Wege, sich eine eigene innere Freiheit zu erkämpfen. Das Rollenspiel lernt er dabei gleich mit.
Als Leser wird man in die Nachkriegszeit der fünfziger und frühen sechziger Jahre zurückversetzt, lernt sowohl das Arrangement der Erwachsenen mit dem Leben kennen als auch das Aufwachsen der Kinder zwischen viel unbeaufsichtigter Freizeit und der „harten Hand“ der Eltern. So ganz anders als heute.
Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen, umfasst 302 Seiten und kostet 24 Euro.
Barbara Raudszus
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