Eine Uraufführung reizt stets zu besonderen Inszenierungen, und sei es nur, um einem neuen Stück die höchst mögliche Aufmerksamkeit zu bieten. Am Staatstheater Darmstadt hat man diese Sonderstellung für Anne Leppers Stück „Hund wohin gehen wir“ mit zwei Maßnahmen erreicht: einerseits hat man die Aufführung in die städtische Kunsthalle verlegt, und andererseits spielt man die Szenen dort parallel in zwei getrennten Räumen. Die zweite Entscheidung impliziert von vornherein den Verzicht auf eine dem Publikum zu vermittelnde Handlung. Die Zuschauer sind bei dieser Konstellation aufgefordert, zwischen den beiden Szeneorten zu wechseln und eher einen Gesamteindruck zu gewinnen als einen geschlossenen Handlungsstrang zu erleben. Zwar kann man Kopfhörer ausleihen, um während der Betrachtung der einen Szenerie die andere zumindest akustisch verfolgen zu können, aber das scheitert praktisch darin, dass die Sprechphasen der beiden Szenerien nicht aufeinander abgestimmt sind. So geschieht es durchaus des Öfteren, dass auf beiden Bühnen Dialoge geführt werden.
In dem großen Saal der Kunsthalle ist eine Guckkastenbühne mit einem Sofa und einer Tür in den Rückraum aufgebaut. Auf dem Sofa sitzen drei Kinder in Gestalt von kindlichen Stoffkörpern, über denen die Köpfe der drei Schauspieler – Stefan Schuster als Simon, Hans-Christian Hegewald als Karl und Béla Milan Uhrlau als Christopher – aus der Sofarückwand herausragen. Die drei führen ihre Figuren wie Puppenspieler aus dem Hintergrund und vermitteln damit überraschend glaubwürdig den Eindruck kleinwüchsiger, aber großkopfiger Menschen. Unter ihren Händen erwachen die Kinderkörper zum Leben und verbinden sich mit dem jeweiligen Kopf zu einer Person.
Die drei Figuren sind Kinder – oder Jugendliche? – in einem Kinderheim oder Waisenhaus. Anscheinend haben sie keine Eltern mehr und werden hier auf das Leben in der „Moderne“ vorbereitet. Ganz bewusst werden sie als sedierte FIguren dargestellt, die an den Drähten der Heimleitung hängen. Die erscheint in Gestalt der Heimleiterin,, Frau Fern (Mathias Znidarek) zwei Mal am Tage aus dem Rückraum, um sie zu wecken, den Nachtschlaf zu verfügen und sie mit Pillen zu versorgen – offensichtlich eine Art Sedierung. Die Vorderwand des Guckkastens ist dabei so tief herunter gezogen, dass die Heimleiterin ohne Kopf erscheint, was offensichtlich die Anonymität oder gar die fehlende Menschlichkeit der Institution widerspiegeln soll.
Die Kinder sind darauf konditioniert, mit dieser Fürsorge für das moderne Leben „draußen“ vorbereitet zu werden, und Christopher sowie Karl glauben das auch mangels besseren Wissens. Nur der neue Simon will hier nicht bleiben und kündigt seinen baldigen Abschied an. In knappen Dialoge mit reduzierter Sprache und ohne emotionalen Ausdruck streut Simon Zweifel und Unzufriedenheit bei seinen Heimgenossen. Die langen Schweigepausen mit sparsamer Mimik sollen offensichtlich die Verlorenheit der Jugendlichen zum Ausdruck bringen, ziehen jedoch das Stück in die Länge und zehren wegen fehlender Handlung an der Geduld des Publikums.
Auf der zweiten Bühne agieren Alma (Edda Wiersch) und Johanna (Marielle Layher) subtil gegeneinander. Ihre Ballettkostüme deuten auf weibliche Klischees hin, und ihre Gespräche drehen sich um eine nebulöse Zukunft – mit oder ohne Abitur. Johanna möchte ihr Leben selbstbestimmt führen, doch Alma verlangt, man müsse nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen verbessern, was dezent einen totalitären Ideologieanspruch zum Ausdruck bringt. Auch die erwachende Sexualität spielt in den spitzen Bemerkungen und zaghaften Annäherungen eine Rolle, wobei die beiden sich zunehmend als Konkurrentinnen betrachten und gegenseitig belauern. Auch hier prägen lange, sprachlose Pausen das (Nicht-)Geschehen, doch da man nie weiß, wann der nächste Dialog einsetzt, kann man den Wechsel zwischen den Spielorten nicht planen.
So beschränkt sich die Rezeption dieses Stückes auf ratlose Wanderungen zwischen zwei Bühnen, wobei man jeweils wichtige(?) Dialoge auf beiden Seiten verpasst. Die Absicht ist unverkennbar: die Jugend als eine Art Gefängnis zu verstehen, wobei die Heimleitung stellvertretend für Eltern und Schule stehen mag, denn sicher sind nicht die Zustände in deutschen Kinderheimen das zentrale Thema.
Der Versuch, das etwas dünne Plot aus jugendlicher Orientierungslosigkeit und autoritärer Führung durch lange Pausen zu verdichten oder gar anzureichern, scheitert jedoch, da eben diese Pausen keine eigene Aussagekraft entwickeln. Zwar erinnert das Stück in seiner emotionslosen Kargheit von ferne an Kafka oder Beckett, aber eben nur von ferne. Der Zuschauer verlässt die Aufführung trotz eines in jeder Hinsicht finalen Handlungselements ein wenig ratlos, und auch ohne fallenden Vorhang bleiben (alle) Fragen offen.
Frank Raudszus
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