Shakespeares „Hamlet“ mit dem berühmten Dialog – „To be or not to be“ – dürfte eines der weltweit meistgespielten Stückes sein, und Generationen von Schauspielern haben sich diese Rolle für die eigene Karriere sehnlichst gewünscht. In den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt ist jetzt eine ganz besondere Inszenierung dieses Paradestücks von dem dänischen Regisseur Tue Biering zu sehen. Er bringt die Rache-Tragödie als ein Vexierspiel aus mehreren Ebenen auf die Bühne, die sich im Laufe der Aufführung permanent vermischen und von den Zuschauern höchste Konzentration erfordern, um die Wechsel der Ebenen nachvollziehen zu können, falls ein solcher Wechsel überhaupt stattfindet. Denn der eigentliche Witz der Inszenierung besteht darin, dass die einzelnen Ebenen sich systemisch derart durchdringen, dass eine Trennung unmöglich erscheint.
Die Unterwanderung der fiktionalen Erwartungshaltung des Publikums beginnt schon in den ersten Augenblicken, wenn sich die Darsteller auf der Bühne aufreihen und die Zuschauer nach ihren Erfahrungen mit „Hamlet“ und ihren Erwartungen befragen. Das fühlt sich dann wie ein Diskussionsabend der Volkshochschule zum Thema „Hamlet“ an, bis Daniel Scholz alias Horatio meint, man solle langsam anfangen, weil man sonst nicht fertig werde. In diesem Stil geht es weiter, wenn Béla Milan Uhrlau bereits die erste Szene mit den einen Geist sehenden Wächtern auf dem Schlossturm durch eine nervige Grundsatzdiskussion über den (Un-)Sinn von Geistern unterbricht. Bis zum Schluss wird Uhrlau alle Ungereimtheiten dieses Stückes mit langatmigen Detaildiskussionen begleiten und Mitspieler wie Publikum nerven. Damit präsentiert er einen Typus, den man sowohl in Ensembles als auch im normalen Leben oft und ungerne trifft.
Das setzt sich fort, wenn der eigentlich sehr ausgleichende Daniel Scholz den dänischen Hamlet-Darsteller Morten Burian fragt, warum gerade er diese Sehnsuchtsrolle spiele, obwohl doch er, Scholz, das viel besser könne. Hier schimmert die – durchaus allgemein menschliche – Eitelkeit des Schauspielers durch, die Scholz mit Penetranz gegen alle Beschwichtigungsversuche des Ensembles durchhält. Man möchte ihm als Zuschauer zurufen, damit aufzuhören und endlich mit dem Stück fortzufahren, doch man hat natürlich längst gemerkt, dass eben diese vermeintlichen „Ausraster“ der Darsteller zum Stück gehören.
Im Grunde genommen läuft die gesamte Inszenierung auf drei permanent wechselnden Ebenen ab: erstens der des „Hamlet“-Stückes, das übrigens weitgehend originalgetreu wenn auch stark gekürzt serviert wird, zweitens die Ebene der abstrakten Schauspieler (gen. masc.!) , die das Stück spielen, das heißt, die Präsentation einer Darstellertypologie und der grundsätzlichen Fragen einer Inszenierung, und drittens die Ebene der konkreten Darmstädter Schauspieler dieser Inszenierung, die wiederum die abstrakten weil typischen Verhaltensweisen von Schauspielern im Rahmen einer Inszenierung darstellen. Da sich die Darsteller mit ihren konkreten Namen ansprechen, verweben sich die beiden Meta-Ebenen ständig. Vordergründig sieht es oft so aus, als ob sich die konkreten Schauspieler auf der Bühne auf mehr oder weiniger heftige Weise streiten, doch realiter spielen sie sich selbst. Das macht die Unterscheidung der beiden Meta-Ebenen so schwierig und ist von der Regie genau so beabsichtigt.
Dafür ist Torsten Loeb ein gutes Beispiel. Er spielt den Opportunisten Polonius und erklärt – als Darsteller – seinen Mitspielern im sinnigerweise weißen Kostüm – Arzt oder Psychiater? – auf die Art und Weise des „alten weißen Mannes“ stets, wie die Inszenierung auf der Bühne zu erfolgen hat. So lässt er Ophelia-Darstellerin Marielle Layher nicht zu Wort kommen, als sie ihm ihre Ideen erklären will, sondern unterbricht sie mehrere Male nach ihrem ersten Wort und erläutert ihr zustimmend das, was sie seiner Meinung nach ausführen wollte. Als Zuschauer möchte man ihm zurufen, er solle Marielle doch ausreden lassen, und empfindet seine spätere Ermordung durch Hamlet alias Morten Burian den Zuschauer als Genugtuung.
Morten Burian steigert sich als Hamlet mit zunehmender Spieldauer in einen selbstgewählte Wahnsinn hinein, der sich schnell aus der Hamletschen Rollen-Begrenzung löst und sich gegen das Ensemble richtet. Auch hier vermischen sich die Ebenen, wenn er Mitspieler und Publikum der Untätigkeit angesichts Klimakatastrophe und sozialer Ungleichheit beschimpft und – ganz im Sinne seiner Rolle! – allen Rache schwört.
Katharina Abt als die ehebrechende Gertrud bricht in eine verbalerotische Suada über ihr Recht auf freie Sexualität vor allem mit jungen Männern aus und bezichtigt zornig alle älteren Männer der (sexuellen) Saturiertheit und fehlenden Esprits. Auf der anderen weiblichen Seite holt nach diesem libertinären Furor Ophelia-Marielle wenig später, wenn es für sie ans Sterben im Schlossteich geht, zu einer fulminanten feministischen Abrechnung mit dem patriarchalischen Autoren- und Theatersystem aus, das die Frauenfiguren meist früh sterben lässt und ihnen angeblich keine tragenden Rollen zugesteht (Fehler: Lady Macbeth!). Sie konterkariert damit in gewisser Weise die vorangegangene Wutrede ihrer Kollegin nach befreiter Sexualität und sieht sich eher in der Rolle des Opfers. Stefan Schuster und Béla Milan Uhrlau führen sie dann gegen ihren heftigen Widerstand mit gar nicht sanften Mitteln ihrem von Shakespeare vorgesehenen Ende im eigens dafür hergerichteten Planschbecken zu.
Mathias Znidarek als sich menschlich und verkannter Landesvater gebender Claudius schaut sich die weiblichen Ausbrüche an und gibt Güldenstein/Rosenkrantz den gutherzig kaschierten aber intriganten Ratschlag, Hamlet in die Sicherheit des Todes zu verbringen. Die Regie verzichtet jedoch auf die Darstellung dieser Intrige sowie Hamlets Gegenmaßnahme und lässt somit dieses Pärchen in der Gestalt von Uhrlau das Ende des Stückes erleben – wenn auch nicht überleben.
Im Laufe des Stückes lösen sich die Abschweifungen des Ensembles vom Shakespeare-Text immer mehr vom Kontext des Stückes und bewegen sich auf den aktuellen Themengebieten unserer Zeit, wobei der Auslöser jedoch in jedem Fall das Stück selbst ist, siehe Ophelias misogynes Sterben oder Gertruds fehlende Achtung des kaum erkalteten Ehebettes. So werden die Ausflüge in die Jetztzeit nie zur aufgesetzten Aktualisierung sondern wirken organisch. Das gilt sogar für den Geist von Hamlets Vater, der hier in Gestalt eines MLPD-Funktionärs mit Fahne und der tapfer-verzweifelten Verlesung des Kommunistischen Manifest erscheint. Der Geist des toten Kommunismus´ eben. Dabei ist festzuhalten, dass die Auftritte in jedem Fall authentisch wirken und den hautnahen Eindruck eines völlig verkrachten Ensembles mit tiefen ideologischen Gräben vermitteln. In keinem Augenblick jedoch werden die hinter diesen Auftritten stehenden Ideen und Ideologien karikiert oder gar denunziert sondern in vollem Umfang ernst genommen – die Gegenpositionen allerdings ebenfalls.
Bleibt der kleine Affe zu erwähnen, dessen beiläufigen Auftritte sich durch das ganze Stück ziehen und der am Ende noch für eine Überraschung sorgt. Man kann in ihm eine enigmatische Metapher für das Unerklärbare sehen, aber auch als den „Geist“ der Inszenierung, der sich am Schluss, nach dem abschließenden, Shakespeare-typischen Massaker, zeigt – denn da nimmt das Kind den Affenkopf ab und zeigt sein Gesicht.
Die Inszenierung ist offensichtlich auf eine Teilhabe des Publikums ausgelegt, und Andeutungen zeigen auch, dass man dies nicht nur erwartet sondern auch begrüßen würde. Doch das wäre ein Trugschluss, denn ein Eingreifen des Publikums in diese von Anfang bis Ende durchgestaltete Inszenierung würde den geplanten Ablauf stören wenn nicht zerstören und mit hoher Wahrscheinlichkeit in sinnlose Diskussion zwischen vorbereiteten Darstellern und spontan reagierenden Zuschauern münden. Wenn man gegen Marielle-Ophelias „Ermordung“ protestieren und diese gar verhindern würde, hätte man die Kritik und nicht den Grund der Kritik ausgemerzt. Und wenn man Torsten Loebes nervige Besserwisserei beenden würde, hätte man damit diese tatsächlich und nicht nur im Theater existierende Unsitte nur unsichtbar gemacht. Interaktives Theater ist eine in der Realität nicht funktionierende Utopie.
Auf der elektronischen Anzeige erscheint als letzte Nachricht der lakonische Satz, dass der Rest vielleicht doch kein Schweigen sei. Den moralischen Zeigefinger in den erklärenden weiteren Sätzen hätte man sich allerdings sparen können. Doch bis auf diese kleine Einschränkung erweist sich diese Inszenierung tatsächlich als ein intelligentes Theater-Ereignis, das sowohl dem Shakespeare-Stück gerecht wird als auch eine kluge und prägnante Einbindung der aktuellen Lebenswelt bewirkt. Diese Inszenierung ist nicht nur Shakespeare-Liebhabern, sondern ebenfalls und vor allem Theaterneulingen und jungen Leuten zu empfehlen, die es ans Theater heranzuführen gilt. Ein engagiertes und in jedem Augenblick auf der Höhe des jeweiligen Diskurses agierendes Ensemble sorgt – neben der Hamlet-Erzählung – nicht nur für einen breit gefächerten Themenkatalog, sondern auch für einen spannenden und – tatsächlich! – schwarz-humorigen Theaterabend. Unbedingt zu empfehlen!
Frank Raudszus
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