Der lateinische Imperativ „memento“ beinhaltet auf ambivalente Weise sowie die Aufforderung, sich zu erinnern als auch, sich einer Tatsache bewusst zu sein. Am deutlichsten wird das in der für das Lateinische typischen komprimierten Formulierung „memento mori“ (Bedenke, dass Du sterben musst“). Tim Plegge, der Leiter des Hessischen Staatsballetts, hat das „memento“ als Titel seiner neuen Produktion gewählt, die bewusst mit der Mehrdeutigkeit dieses Wortes spielt. Einerseits bringt er immer wieder die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse ins Spiel, andererseits aber auch die Vergänglichkeit einschließlich des Todes. Diese Assoziationen sind jedoch nie vordergründig oder gar platt, sondern erlauben stets auch andere Interpretationen.
Das Bühnenbild dominiert ein kubistisches Gebilde aus halbtrabsparenten Gaze-Vorhängen, die kastenartig ineinander verschachtelt sind und sich unabhängig voneinander in der Vertikalen bewegen können. So entstehen mal virtuelle Hochhaus-Silhouetten, dann wieder Irrgärten auf gleicher Höhe oder andere räumliche Kombinationen. Die Musik zu dieser Choreographie kommt live aus dem Graben, gespielt vom Staatsorchester Darmstadt unter der Leitung von Johannes Zahn. Über weite Strecken begleiten Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ das tänzerische Geschehen auf der Bühnen, vorrangig der abschieds-affine „Winter“. Doch kommt hier nicht Vivaldis Originalversion zu Gehör, sondern eine eigene Bearbeitung mit raffinierten rhythmischen und instrumentalen, die Hörerwartungen des Publikums geschickt unterlaufenden Abwandlungen. Vor allem die wiederkehrenden metrischen Verkürzungen wecken die Aufmerksamkeit des Publikums und sorgen für kreative Irritation.
Die erste Szene zeigt am Rand der abgedunkelten Bühne einen leicht wabernden, glitzernden Haufen, der an die verlöschende Glut eines Feuers erinnert. Schon hier setzen die Assoziationen von Abschied und Ende ein. Doch dann entfaltet sich dieses Gebilde nach oben, erweitert sich und nimmt schließlich menschliche Züge an: ein von glitzernden Schleiern umhüllter Frauenkörper, der tanzend die Bühne erobert.
Die Szenen auf der Bühne geben keine geschlossene Geschichte wieder, sondern bilden Momentaufnahmen des Abschieds und der Erinnerung. Im Mittelpunkt stehen dabei mehrheitlich Paare oder kleine Gruppen, die durch Kleidung und Beleuchtung hervorgehoben werden und alle Variationen des Abschieds durchspielen. Letzte Blicke, ausgestreckte, nicht mehr erreichbare Arme und die quälende Erinnerung an die Trennung sind wiederkehrende Elemente der tänzerischen Figuren. Dabei überrascht die neo-klassische Ausrichtung der Choreographie. Keine direkte Übersetzung innerer Kämpfe und Widersprüche in extreme, den Schmerz nach außen kehrender Körpersprache, sondern auch in extremen emotionalen Situationen fließende Bewegungen prägen die Figuren der Tänzer und Tänzerinnen. Dabei bleibt jedoch stets eine deutliche Distanz zum klassischen Ballett, das Emotionen grundsätzlich in harmonischen Bewegungsabläufen sublimierte. Hier werden seelische Kämpfe gezeigt, aber in ausgewogener Darstellung.
Als ein neues Element der Choreographie kommt die Sprache ins Spiel. Eine Frauenstimme (Jana Schulz) spricht über Erinnerungen, dabei wiederkehrend den Begriff „erinnern“ benutzend, und beschreibt die körperlichen Ausdrucksvarianten bei einem Abschied: ausgestreckte Hände, verdrehte Köpfe und Körper, die Suche nach einem letzten Hautkontakt und die langen Abschiedsblicke. Diesen mehrmals wiederholten Text tanzen die Ensemble-Mitglieder einzeln oder in Gruppen wörtlich nach, wie bei einer Regieanweisung. Da die Texte jedoch im Tonfall einer emotionalen Rückschau vorgetragen werden, wirken die tänzerischen Umsetzungen nie mechanisch oder gar platt, sondern verleihen dem Text im Gegenteil erst Ausdruckskraft.
Der Abschied wäre kein echter, wenn er nicht auch durch Ängste und depressive Momente überschattet würde. Diese lässt Plegge als dunkle Gestalten in Kapuzenmänteln wie eine Herde von Tieren oder Todesengeln auf die Bühne kommen und sich unter die Abschiedsprotagonisten mischen. Diese gesichtslosen Gesellen wimmeln entweder kriechend auf dem Bühnenboden oder umringen die Einzeltänzer wie nächtliche Albträume auf bedrängende Weise. Und Plegge buchstabiert, wie bereits erwähnt, seinen Abschiedsgedanken bis zum Tod durch. Einerseits lassen sich einzeln auftretende Kapuzenfiguren auch als der sprichwörtliche Tod deuten, wenn sie plötzlich hinter einzeln tanzenden Ensemblemitgliedern stehen, andererseits entstehen immer wieder Situationen, wo bei einem Abschied ein Teil des Paares wie leblos auf der Bühne liegen bleibt. In einer Szene stellt ein Paar sogar in einer kurzen und daher unaufdringlichen Passage die berühmte „Pietá“ dar, wobei der Tänzer dahingestreckt auf den ausgebreiteten Armen seiner Mittänzerin liegt.
In einigen Szenen erscheinen die gerade von einem Ensemble-Mitglied getanzten Figuren als stark verfremdete Videosequenz in Schwarz-Weiß auf den Gaze-Vorhängen. Doch nehmen diese Videosequenzen nur kurze Zeit in Anspruch und vermeiden damit jegliche modische Überdeckung des tänzerischen Geschehens durch digitale Effekte.
Gegen Ende tritt dann doch noch der gewollte Bruch ein. Im Hintergrund der Bühne entwickelt sich ein schwarzes Ballongebilde zu einem wabernden Ungetüm zunehmender Größe. Man darf annehmen, dass dieses Monster die Ängste vor einer ungewissen Zukunft widerspiegelt, in deren – nicht vorhandenen – Arme sich die Abschied nehmenden Tänzer mit verzweifeltem Mut werfen. Dazu wechselt die Musik abrupt von den introvertierten Klagen des Vivaldi-Winters zu lautem Rock, so als wolle der Choreograph ausrufen, jetzt werde alles anderes, neuer und wilder. Das wabernde Gummi-Monster nimmt dabei immer größere, ja: bedrohliche Ausmaße an, bis es langsam wieder schrumpft und im Bühnenrückraum verschwindet. Der Rest ist Schweigen, und das Ensemble tanzt zwischen den niedersinkenden Gaze-Gebäuden in konsequenten Einzelfiguren die Vereinsamung nach.
Diese Choreographie entwickelte sich wegen der Corona-Pandemie in einem Zeitraum von über einem Jahr, wohingegen eine solche Produktion in normalen Zeiten nicht mehr als ein Vierteljahr benötigt. Das birgt zwar die Gefahr der nachlassenden Spannung in sich, auf der anderen Seite können sich dabei viele neue, kreative Ideen entwickeln, die bekanntlich oft erst während der Proben aufkommen. Hier nutzte man die Zeit für eben diese überraschende Kreativität, die den Abend vom ersten bis zum letzten Moment überraschend, spannend und anrührend werden lässt. So gebiert denn Corona am Ende auf implizite Weise doch noch große Momente, die wir nicht missen möchten.
Das Publikum zeigte sich begeistert und spendete außer lang anhaltendem Beifall „Bravo“-Rufe und andere akustische Zeichen der Freude über diesen Tanztheater-Abend.
Frrank Raudszus
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