Ende Januar 1933 ernannte Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Kanzler einer Koalitionsregierung, weil dieser nur unter der Bedingung des Kanzleramts zur Mitarbeit bereit war. Außerdem verlangte Hitler Neuwahlen innerhalb von sechs Wochen, die er, mit dem Kanzleramt im Rücken, deutlich zu gewinnen glaubte. Er hatte – leider – Recht, vor allem, weil er und seine SA- wie SS-Getreuen die neu gewonnenen Machtbefugnisse skrupellos für den eigenen Wahlkampf und für Terror nutzten.
Uwe Wittstock schildert in dem vorliegenden Buch die Auswirkungen der Machtergreifung auf die Kultur- und Intellektuellen-Szene in Deutschland, speziell in Berlin. Die Szenen waren damals jedoch weitgehend deckungsgleich, da das Berlin der zwanziger Jahre der kulturelle Mittelpunkt Deutschlands war, vergleichbar mit dem Stellenwert Londons für Großbritannien. Wer damals kulturell mitreden wollte, musste in Berlin leben oder zumindest dort öfter präsent sein. Ironischerweise waren jedoch die literarisch zentralen Personen – die Familie Mann – keine sesshaften Berliner. Thomas und seine Frau Katia lebten in München, der Bruder Heinrich allerdings in Berlin, und die Kinder Klaus und Erika verbrachten ebenfalls viel Zeit in Berlin. Des weiteren sind zu nennen Alfred Döblin sowie sein Medizinerkollege und Intimfeind Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Käthe Kollwitz und Ricarda Huch, Ernst Toller und Oskar Maria Graf, Carl von Ossietzky, George Grosz sowie Erich Maria Remarque, um nur die bekanntesten Namen zu nennen. Viele der hier genannten (und ungenannten) Personen kannten sich untereinander und verkehrten in verschiedenen Kreisen miteinander. Man kannte und schätzte sich – bisweilen.
Uwe Wittstock hat sich in seinen Schilderungen der Lebenssituation seiner Protagonisten soweit wie möglich an dokumentarische Fakten gehalten. Das geht natürlich nicht bei den Dialogen der Personen. Der Lebensnähe seiner Schilderungen zuliebe hat Wittstock diese Bereiche fiktionalisiert, weist jedoch im Vorwort explizit darauf hin. Dabei hat er versucht, die Dialoge entlang der bekannten Eigenschaften seiner Protagonisten zu gestalten, und das dürfte ihm gelungen sein, soweit man das aus einem Abstand von fast neunzig Jahren sagen kann. Jedenfalls wirken die Dialoge glaubwürdig. Die reinen Fakten allerdings schildert Wittstock anhand schriftlicher Unterlagen und Zeugenaussagen von Zeitgenossen.
Auch heute noch erstaunt – aus der Sicht der „wissenden“ Nachgeborenen – die Naivität der Betroffenen. Nur wenige sahen für sich nach dem 30. Januar eine unmittelbare, tödliche Gefahren: die kommunistischen Aktivisten und die Juden, wenn auch nicht alle. Der allgemeine Tenor lautete, dass Hitler das nächste halbe Jahr politisch nicht überleben, ja vielleicht schon in sechs Wochen abgewählt werde. Viele Juden hielten sich zu Recht für assimiliert und daher ungefährdet, und konservative Künstler sahen keine Gefahr, insofern sie nicht öffentlich gegen die Nationalsozialisten polemisiert hatten. Das traf besonders auf Thomas Mann zu, der sich lange Zeit als über dem politischen Tagesgeschehen stehenden Künstler begriff und erst spät merkte, dass bereits sein öffentliches Einstehen für die Demokratie der Weimarer Republik eine Gefahr für ihn darstellte. Sein Bruder Heinrich war da wegen seiner Romane – etwa „Der Untertan“ oder „Professor Unrat“ – schon sensibler, glaubte aber, die Entwicklung erst noch abwarten zu können.
Einen zweiten Schwerpunkt – neben den Manns – bildet die „Preussische Akademie der Künste“, hier speziell die Abteilung Dichtung, in der alle namhaften Literaten der Weimarer Zeit vertreten waren (s.o.). Noch in der Interimszeit bis zur Neuwahl setzten die – bereits regierenden – Nazis die Akademieleitung unter Druck, Juden und Kritiker des Nationalsozialismus auszuschließen. Die Akademieleitung knickte aus Angst vor der Schließung sofort ein und schloss z. B. Heinrich Mann aus. Das fand zwar in Form eines freiwilligen Austritts des Betroffenen statt, aber unter entsprechendem Druck. Die anderen – nur scheinbar ungefährdeten – Mitglieder senkten die Köpfe, da sie um ihre eigene Position fürchteten. Nur wenige, darunter Alfred Döblin, kritisierten mit aller Schärfe den repressiven Eingriff der Regierung und forderten in heftigen Diskussionen die Erhaltung der Meinungsfreiheit. Einige traten deswegen spontan zurück. Ein denkbar schlechtes Beispiel gab Gottfried Benn ab, dessen selbst-transzendierende Egomanie die Demokratie mit ihrer Nivellierung nicht ertragen konnte und der sich ein neues, mystisches Deutschland mit einer homogenen, hoch strebenden Geistigkeit herbeisehnte. Wittstock weist nicht nur darauf hin, dass Benn offiziell seine Ergebenheit gegenüber Hitler zum Ausdruck brachte, sondern dass man ihm nach dem im völkischen Einvernehmen mit den Nazis verbrachten zwölf Jahren in den fünfziger Jahren Posten und Literaturpreise antrug. Der sozial kämpferische Realist Döblin – „Berlin Alexanderplatz“! – trug in den fraglichen sechs Wochen mit seinem Medizinerkollegen Benn die heftigsten Streitgespräche über die Zukunft der Akademie aus, ohne sich gegen ihn und die anderen halbherzigen Mitglieder durchsetzen zu können.
Im steten Wechsel der betrachteten Personen entwickelt Wittstock ein Tableau des kulturellen Lebens Anfang der dreißiger Jahre. Immer wieder blendet er zurück in die Zwanziger und deren Bedeutung für seine Protagonisten, seien es Schauspieler, Regisseure, Musiker oder Schriftsteller. Die meisten der oben erwähnten Personen hatten sich in der Weimarer Republik einen Namen gemacht – etwa Brecht – und konnten sich daher nur schwer entschließen, Deutschland zu verlassen. Viele von ihnen schafften es in diesen sechs Wochen – oder kurz danach – noch nach Prag, Wien, Paris oder in die Schweiz, andere, wie Carl von Ossietzky, haben jedoch ihren Mut zum Dableiben mit dem Leben bezahlt. Manche(r) ging früh mit Geld und Wertsachen, andere folgten in letzter Minute buchstäblich mit ihren Kleidern als einziger Habe.
Wittstock hat das gesamte Buch im Präsens verfasst, wodurch er nicht nur mehr Nähe und Spannung bewirkt, sondern implizit auch so etwas wie Aktualität. Der Leser wird durch diese literarische Gleichzeitigkeit implizit auf die eigene Zeit verwiesen. Wenn diese derzeit zwar auch nicht vergleichbar ist mit der Katastrophe von 1933, so sind doch einige Ähnlichkeiten zu erkennen, glücklicherweise ohne den Machthintergrund. Allerdings erkennt man gerade in der naiven Unterschätzung der Rechten von 1933 die Gefahr für heutige Zustände. Wehret den Anfängen – das ist die Quintessenz, die man aus diesem intellektuell-politischen Schnappschuss des frühen 1933 ziehen kann.
Das Buch ist im Verlag C.H.Beck erschienen, umfasst 288 Seiten und kostet 24 Euro.
Frank Raudszus
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