Am 8. Oktober öffnet als letzte in der herbstlichen Trilogie der Kunstausstellungen Südhessens die Ausstellung „Paula Modersohn-Becker“ in der Frankfurter Kunsthalle Schirn ihre Tore für das Publikum. Über Rembrandt und Liebermann haben wir hier bereits berichtet.
Paula Modersohn-Becker, geboren 1876 als Paula Becker, wurde nur 31 Jahre alt und erlitt damit ein ähnliches Schicksal wie Franz Schubert oder Mozart in der Musik. Mit letzterem lässt sie sich wegen der ihr zu Lebzeiten erwiesenen Missachtung nicht vergleichen, eher schon mit ersterem, der ebenfalls Zeit seines kurzen Lebens um seine Anerkennung zu kämpfen hatte. Bei Paula Modersohn-Becker hatte die fehlende Würdigung zu Lebzeiten zwei systemische Gründe: einerseits empörte sich die patriarchalische Gesellschaft über die Frechheit einer Frau, sich in der Öffentlichkeit als Künstlerin zu zeigen, andererseits behagte dem auf „klassische“ Schönheit abonnierten bürgerlichen Publikum ihr eigenwilliger, wenn nicht radikaler und damit ihrer Zeit weit voraus eilender Stil überhaupt nicht.
Aus bürgerlichem Haus stammend, legte Paula erst ein Lehrerinnen-Examen ab, bevor sie sich endgültig der Kunst widmete. Dabei setzte sie sich gegen alle Vorurteile der damaligen Gesellschaft durch und folgte ihrer eigenen Berufung. Bis zu ihrem frühen Tod im Jahr 1906 fertigte sie 734 Gemälde und etwa 1500 Papierarbeiten – Zeichnungen und andere Grafiken – an. Die Ehe mit Otto Modersohn war zwar spannungsreich, jedoch förderte ihr selbst professionell malender Mann sie trotz seiner Skepsis gegenüber ihrem Stil nach Kräften. Ein mehrjähriger Aufenthalt an der Kunstakademie in Paris – in Deutschland konnte sie als Frau nicht frei studieren – förderte nicht nur ihr künstlerisches Können sondern auch ihre Unabhängigkeit. Den Rest ihres kurzen Lebens verbrachte sie in Worpswede bei Bremen.
Die Kunsthalle Schirn zeigt aus dem umfangreichen Werk der Künstlerin 116 Gemälde und Zeichnungen, die bewusst nach Themen und nicht chronologisch geordnet sind. Das liegt einerseits daran, dass Paula Modersohn-Becker aufgrund ihres kurzen Lebens keine ausgeprägten Schaffensphasen – Stichwort „Alterswerk“ – entwickeln konnte und andererseits ihrem ganz eigenen Stilempfinden folgte, das sich durch einen unverkennbaren Drang zur Vereinfachung bis hin zur Abstraktion auszeichnete. So finden sich in ihren Werken immer wieder bis ins Detail naturalistisch anmutende Stücke neben flächenhaft vereinfachten Bildern, die sich auf das Wesentliche des jeweiligen Sujets konzentrieren. Zeitlich abgrenzbare Phasen für diese unterschiedlichen Darstellungsweisen lassen sich dabei nicht identifizieren. Die nicht immer eingängigen Werke erhielten schon früh die ambivalente Bezeichnung der „Merkwürdigkeit“, was man heute durchweg als Kompliment betrachtet.
Die Ausstellung beginnt im ersten Saal mit Selbstportraits der Künstlerin. Dazu bemerkte Kuratorin Ingrid Pfeiffer, dass dies für Maler aller Zeiten ein wichtiges Instrument zur Erprobung von Malstilen und Ausdrucksvarianten gewesen sei und dass nebenbei dafür auch die Kosten für Modelle entfielen. Der erste Blick fällt dabei auf ein Selbstportrait als Halbakt mit einem Bauch, der eine Schwangerschaft vorspiegelt. Dass eine sowieso schon mit Skepsis oder gar Ablehnung behandelte Künstlerin sich selbst (halb-)nackt zur Schau stellte, kam einem Skandal gleich, was aber die Künstlerin wenig kümmerte.
Daran schließen sich Portraits von Freunden und Bekannten an, wobei besonders die Portraits der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff und deren kurzzeitigen Ehemanns Rainer Maria Rilke hervorstechen: ersteres wegen der naturalistischen und ausdrucksstarken Malweise, letzteres wegen der Abstraktion bis auf wenige elementare Gesichtszüge.
Den größten Bereich bilden die Kinderbilder, die auch im Schaffen der Künstlerin den Schwerpunkt darstellten. Sie bildete dabei die Kinder ihrer dörflichen Umgebung als Teile einer hart ums Überleben arbeitenden ländlichen Gesellschaft ab, die eine Kindheit im heutigen Sinne gar nicht erst kennenlernten. Diese frühe Lebenserfahrung spiegelt sich in den Physiognomien aller portraitierten Kinder wider. Paula Modersohn-Becker kritisierte damit – zumindest implizit – den damals üblichen Brauch, Kinder für das gute Gewissen des bürgerlichen Bildungspublikums als fröhlich-süße Geschöpfe darzustellen.
Ähnliches gilt für die Bauern und Bäuerinnen der Umgebung, die für die Künstlerin ebenfalls kostenlose Modelle darstellten. Man sieht erdfarbene Töne, tief liegende Augen, schmale, zusammengepresste Münder und hagere Wangen: eben die schwer arbeitende Landbevölkerung. Auch hier keine romantische Verklärung des Landlebens.
Landschaften und Stillleben bilden den Abschluss der Ausstellung. Auch hier sieht man neben fast impressionistisch anmutenden Birkenalleen geometrisch abgezirkelte Flächen in gedeckten Farben ohne Licht- und Schatteneffekte, womit die Künstlerin die weiten, flachen Felder unter einem grauen Nordseehimmel treffend charakterisierte. Landschaft ist nicht immer „schön“, sie kann auch trostlos wirken, vor allem wenn das sich darin abspielende Leben solche Züge aufweist.
Kuratorin Pfeiffer wies in ihren lebendigen Ausführungen auf den „Zoom“-Effekt bei vielen Bildern Paula Modersohn-Beckers hin. Dabei werden bestimmte Motive – etwa ein Baby in den Mutterarmen – in einen unvollständigen Kontext gestellt, als sei das Bild nur ein Ausschnitt eines größeren. In Portraits wird der Hut halb abgeschnitten oder in Landschaftsbildern die Kronen der Bäume. Damit führt die Künstlerin den Blick auf das ihrer Meinung nach Wesentliche hin und lenkt die Betrachter erst gar nicht durch die üblichen Beigaben einer Gemälde-Komposition ab. Darüber hinaus entwickelt ein solcher Lupeneffekt eine ganz besondere Sogkraft und erzeugt Bedeutung, ohne diese explizit machen zu müssen.
Die Ausstellung ist vom 8. Oktober bis zum 6. Februar 2022 geöffnet. Näheres ist der Webseite der Schirn zu entnehmen.
Frank Raudszus
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