Wer ohne große Vorkenntnisse bezüglich Pucchinis „La Bohème“ Oper die zweite Vorstellung besuchte, geriet zu Beginn in arge Verständnisprobleme. Die Sänger sangen auf Italienisch, die deutsche Übertitelung war ausgefallen, und – größtes Hindernis! – das Bühnenbild verwirrte selbst kundige Besucher. Denn hier sah man keine frostkalte Künstlerwohnung mit Ofen ohne Heizmaterial, sondern ein modernes Kunstmuseum mit weißen Wänden, uniformierten Museumswächtern und wenigen Objekten, von denen eines die großen Blockbuchstaben MIMI darstellte. Die ausführliche – wenn nicht gar langatmige – Erklärung konnte man zwar dem Programmheft entnehmen, aber wer hat schon Zeit, kurz vor Beginn der Vorstellung einen mehrseitigen Artikel zu lesen, vor allem, wenn man erst noch die Corona-Prozeduren über sich ergehen lassen muss.
Pucchinis Oper basiert auf einem episodischen Fortsetzungsroman aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Vier arrivierte Künstler blicken nostalgisch aber saturiert auf ihre Jugend mit kalten Zimmern und wechselnden Geliebten zurück, unter ihnen Mimi und Musetta. Pucchini hat diese Vorlage auf den Zeitraum von etwa einem halben Jahr aus eben dieser Rückschau verengt und lässt eine tragische Geschichte von Winter bis Sommer ablaufen. Die ist insofern konsistent, als Mimi bereits zu Beginn todkrank ist und gegen Ende dieses Zeitraums stirbt.
Wolfgang Nägele versucht nun jedoch, die arrivierten Künstler aus der Vorlage ins Spiel zu bringen und das Ganze auf zwei Ebenen anzusiedeln: einerseits die Geschichte um Mimi und Musetta, andererseits die auf ihre Jugend zurück schauenden Erfolgskünstler. Da steht ihm jedoch Pucchinis Libretto mit seinen Texten und Handlungselementen deutlich im Wege, und bis zum Schluss kann Nägele dieses Problem nicht zufriedenstellend lösen. Das Museum als Metapher der Erinnerung lässt sich zwar noch nachvollziehen, doch wenn dann die vier jungen Männer – Rodolfo (David Lee), Marcello (Julian Orlishausen), Schaunard (Georg Festl) und Colline (Sam Carl) – ihre Texte frierender und hungernder Künstler singend vortragen, passen die Inhalte nicht mehr zum Bühnenbild, vom Auftritt der todkranken und zur Museumszeit längst verstorbenen Mimi (Megan Marie Hart) ganz zu schweigen. Zwar hat man – die uniformierten Wächter! – die MIMI-Buchstaben diskret zur Seite geräumt, doch die Museumsatmosphäre bleibt erhalten.
Wie dem auch sei: vor allem in den mittleren zwei Bildern lässt die deutliche Beschränkung auf die Handlungsebene der Jugendzeit dieses Problem in den Hintergrund treten. Hier erlebt man die bekannte „Bohème“ mit der Wirtshausszene und dem Treffen des Liebespaares auf der tödlich-kalten Straße vor Rodolfos Wohnung. Dazu hat Bühnenbildner Stefan Mayer die Bühne entsprechend angepasst. Im zweiten Bild lässt er mehrere Ebene aus dem Bühnenhimmel herab, die unter anderem viele Pappmaché-Häuser als Bild für das dicht bebaute Paris enthalten. Dann senkt sich noch – nicht besonders originell weil schon abgenutzt – der vergoldete Sockel des Eiffelturms auf die Bühne. Aha, das Stück spielt in Paris, fehlt nur noch ein folkloristischer Hinweis auf Montmartre.
Die Wirtshausszene kommt als Burleske ein wenig à la Commedia dell´arte daher. Musettas ältlicher Geliebter Alcindoro trägt ein lächerlich verdickendes Stramplerkostüm, und die immerhin an TBC erkrankte Mimi präsentiert sich in Fantasiekostümen auf der Plattform des Eiffelturms. Zum Schluss schreiten noch drei mit Tierköpfen verkleidete Figuren von der Rückwand zur Rampe, deren Bedeutung sich aus dem Kontext beim besten Willen nicht erschließen lässt.
In der Außenszene beherrscht eine überdimensionierte, kalt-weiße Rampe mit eingemeißelten Stufen zu einer hoch gelegenen Fahrstuhltür die gesamte Bühne. Dick vermummte Gestalten schleppen Gegenstände zu der Tür und verweisen mit ihren Kostümen zwar auf die bittere Kälte, verstecken aber ihre metaphorische Bedeutung hinter Handschuhen und Gesichtsschutz. Dennoch verströmt die kalkweiße Umgebung gerade die Kälte des Todes, die Rodolfo und Mimi ans Herz geht.
Im letzten Bild erscheint dann das Museum wieder auf der Bühne, samt Tisch für ein Champagner-Gelage der nun arrivierten Künstler. Dass mitten in dieses von der Regie arrangierte nostalgische Treffen Mimi platzt und stirbt, passt logisch überhaupt nicht mehr zusammen. Doch man ist ja in der Oper an verquerer Logik einiges gewohnt und nimmt es hin, sofern man die „Bohème“ kennt. Die unfreiwillige Ironie dieser Inszenierung besteht aber gerade darin, dass Pucchini die Zeitbrüche der Vorlage aus Gründen der Konsistenz bewusst entfernt hat, die Regie sie aber wieder eingeführt hat. Doch letztlich verwirrt Wolfgang Nägele das Publikum damit nur, oder – was bedenklicher ist – dieses ignoriert die Absichten der Regie und sieht nur die „klassische“ Handlung dieser Oper.
Und diese Handlung stellt das Ensemble über weite Strecken überzeugend dar, etwa in der anrührenden Szene des dritten Bildes zwischen Rodolfo und Mimi oder in der Sterbeszene Mimis. Dort zeigt David Lees Rodolfo alle Anzeichen der Panik angesichts des nahenden Todes seiner Geliebten, indem er nicht einmal in der Lage ist, ihre Hand oder ihren Kopf zu halten. Der Schrecken des Todes lähmt ihn geradezu. Julian Orlishausen ist ein lebensfroher, aber im entscheidenden Moment auch empathiefähiger Marcello, und Jana Baumeister verleiht der Musetta nicht nur Witz und Durchsetzungsvermögen sondern auch einen Sinn für Mitgefühl. Megan Marie Hart erliegt nicht der Versuchung, Mimi zu sentimental-leidend darzustellen, und verlagert Mimis Gefühle hauptsächlich auf den gesanglichen Ausdruck.
Die Gesangsleistungen des Ensembles sind durchweg respektabel. Natürlich glänzen wegen ihrer Rollen in erster Linie David Lee als Rodolfo und Megan Marie Hart als Mimi mit ausdrucksstarken Solopartien, aber auch die anderen Ensemblemitglieder fallen dagegen nicht ab sondern fügen sich gut in das musikalische Gesamtbild ein. Das Orchester unter der Leitung von Johannes Stark präsentiert Pucchinis Musik mit viel Gespür für die Gefühlslage der jeweiligen Szenerie. Im Gegensatz zur klassischen Oper, deren Arien meist einen metrischen Liedcharakter aufweisen, löst Pucchini die Musik in metrisch freie musikalische Beschreibungen der emotionalen Situation auf. Da wird jedes einzelne Instrument wichtig, und die Transparenz rangiert deutlich vor dem Tutti-Effekt. Das Orchester löste diese Herausforderung auf hervorragende Weise, sieht man einmal von einigen Ungenauigkeiten beim Zusammenspiel von Chor und Orchester am Ende des dritten Bildes ab.
Das Publikum zeigte sich sehr angetan und spendete kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
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