Zum 200. Geburtstag der britischen Autorin George Eliot, mit bürgerlichem Namen Mary Anne Evans, erschienen im Jahr 2019 zwei Neuübersetzungen ihres Romans „Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz“ im Rowohlt Verlag und im Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv).
Das ist ein Angebot und eine Herausforderung zugleich, denn der Roman verlangt der Leserin einiges an Leseenergie ab, und zwar sowohl vom Umfang als auch von seiner komplexen Handlung her. Die Figurenkonstellation umfasst zahlreiche Familienkreise, die miteinander verschränkt sind. Im Rahmen des Mikrokosmos der südenglischen Kleinstadt „Middlemarch“ werden die großen gesellschaftlichen und politischen Themen der britischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesprochen. Wir erleben mit den Figuren, wie der gesellschaftliche Wandel von der durch landwirtschaftlichen Großgrundbesitz der Aristokratie geformten Tradition zu einer zunehmend wissenschaftlich und industriell geprägten bürgerlichen Gesellschaft alle Lebensformen durchdringt und bisher scheinbar unverrückbare Werte und Lebensformen in Frage stellt.
„Middlemarch“ wurde im Jahr 2015 von 82 renommierten internationalen Litertaturkritikern – außer britischen! – zum wichtigsten britischen Roman gewählt.
Die Handlung des 1871 erschienenen Romans umfasst die Jahre 1829 bis 1832. Im Mittelpunkt stehen die Protagonisten Dorothea Brooke und Tertius Lydgate.
Dorothea will aus dem nutzlosen, untätigen großbürgerlichen Frauenleben ausbrechen und sich sozial engagieren, etwa für bessere Behausungen der Pächter und Landarbeiter auf den Gütern. Sie will mehr lernen und wissen, als ihr in der Schule für höhere Töchter an guten Manieren und Regeln der gepflegten Unterhaltung sowie des reizenden Piano-Spielens beigebracht worden ist.
Deshalb heiratet sie gegen den Rat von Familie und Freunden den ältlichen gelehrten Kirchenmann Edward Casaubon. Die Ehe wird eine Enttäuschung, denn ihr Mann ist dem traditionellen Frauenbild verpflichtet und benutzt ihre Wissbegier für niedere Hilfsdienste bei seinen wissenschaftlichen Studien. Dorothea steht dennoch in puritanischer Pflichterfüllung zu ihm, Fehler stets nur bei sich suchend.
Der junge Arzt Tertius Lydgate kommt nach Middlemarch, um moderne Therapiemethoden, die er in Paris kennen gelernt hat, in die Provinz zu bringen. In Middlemarch stößt er auf große Skepsis, zumal er sich in einem neumodischen Fieber-Krankenhaus engagiert, das ebenfalls misstrauisch beäugt wird.
Beide Protagonisten sind in ein komplexes Gefüge von verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen hineingestellt, das ihre jeweiligen Lebenswege wesentlich beeinflusst. Der Roman verfolgt diese Lebenswege, die von großem jugendlichen Elan und Zukunftsoptimismus ausgehen, sich jedoch an den realen Gegebenheiten reiben müssen und schließlich eine jeweils andere Richtung finden als die ursprünglich geplante.
Middlemarch ist der Ort, an dem die Autorin das britische Klassensystem aufs Korn nimmt, das „gute Herkunft“ und „reines Blut“ als Voraussetzungen für erfolgreiche Eheschließungen ansieht. In den zwischenmenschlichen Beziehungen spielt Geld die dominierende Rolle. Die Menschen sind in der Zwangsjacke des angemessenen, standesgemäßen Verhaltens gefangen, aus der sie sich nur mit der Aufgabe gesellschaftlicher Anerkennung befreien können.
George Eliot entfaltet in ihrem Roman eine Kaleidoskop von Charakteren und unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen und entsprechenden Abhängigkeiten. Das erfordert insbesondere zu Beginn der Lektüre aufmerksames Lesen, will man sich nicht in dem vielfältigen Netz verlieren. Zur Orientierung finden sich im Internet, wie auch in der Rowohlt-Ausgabe, etliche Diagramme zur Figurenkonstellation von „Middlemarch“.
Was nun macht die Lektüre dieses Romans noch im Jahre 2021 so attraktiv?
Es ist zunächst der Spiegel, den Eliot dieser Gesellschaft vorhält, ganz wesentlich jedoch auch der Bezug zu unserer Gegenwart.
Auf der psychologischen Ebene behandelt die allwissende Erzählerin in Kommentaren und Reflexionen die Motive ihrer handelnden Figuren, hinter denen sie grundsätzliche Haltungen über Ehe, über Geschlechterrollen, über gesellschaftliche Urteile und Vorurteile mit analytischer Schärfe offenlegt.
Auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene entlarvt sie Machtstrukturen, Privilegien und soziale Borniertheit, die die Handlungen und Entscheidungen der Menschen bestimmen, solange sie innerhalb des Systems erfolgreich sein wollen. So wird auch der unterschwellige Rassismus einer Gesellschaft sichtbar, die auf ihre Zivilisiertheit und ihre Umgangsformen schwört. Das Beharren auf dem Primat der guten Manieren kann jede inhaltliche Auseinandersetzung aus den Angeln heben und diejenigen ausbremsen, die für eine gute Sache brennen. Welch ein Bezug zu heute, da die Form in der Auseinandersetzung so wichtig wird, dass sie einer Zensur gleichkommen kann.
Um 1830 befindet sich die britische Gesellschaft mitten in dem Antagonismus zwischen landbesitzendem Adel und dem aufstrebenden Bürgertum aus Industrie und Handel. George Eliot thematisiert das mit dem politischen Kampf um ein gerechteres Wahlsystem, um die sogenannte „Reform Bill“, der auch auf der lokalpolitischen Ebene von Middlemarch unerbittlich ausgetragen wird.
Darüber hinaus nimmt sie die religiöse Bigotterie der lokalen Größen in den Blick, die religiöse Moral als Instrument der Macht und der Disziplinierung von Abweichlern missbrauchen.
George Eliot ist eine Meisterin des szenischen Dialogs, in dem sie den Leserinnen ihre Figuren so vorführt, dass sie sich selbst ein Urteil bilden können. Vor diesem Hintergrund sind die Kommentare der Erzählerin keine Belehrungen, vielmehr sind sie Angebote an ihre Leserschaft, mit ihr gemeinsam in die Reflexion einzusteigen.
Das alles erfolgt auf einem so hohen sprachlichen Niveau mit langen Satzperioden und Parenthesen, dass es auch in der Übersetzung hoher Konzentration bedarf, um so manchem Satz folgen zu können. Dann ist auch vielleicht eine zweite Lektüre einer Passage sinnvoll. Noch herausfordernder ist es, den Roman im Original zu lesen, wenn man sich das sprachlich zutraut. Aber es lohnt sich, wenn man wohl auch bei guten Englischkenntnissen ein Lexikon oder das Leo-Programm griffbereit haben sollte.
Insgesamt ist „Middlemarch“ ein immer noch höchst lesenswerter, ebenso vergnüglicher wie kritischer Roman, der allerdings an das Durchhaltevermögen der Leserinnen und Leser hohe Anforderungen stellt. Aber es lohnt sich. Allein schon wegen so köstlicher Szenen wie der, die sich am Sterbebett des alten, reichen Featherstone – man lasse sich den Namen auf der Zunge zergehen! – abspielt: Mit herrlicher Ironie führt George Eliot all die lieben nahen und fernen Verwandten vor, die das Sterbehaus belagern, um ja bei der Verlesung des Testament nicht übers Ohr gehauen zu werden. Der alte Featherstone aber hat sie in seinem letzten Willen seinerseits alle übers Ohr gehauen.
George Eliots Herz aber gehört all jenen Menschen, die an ihren Idealen festhalten, ohne auf den eigenen Vorteil zu achten, die im Stillen Gutes tun, ohne dass die Nachwelt davon erfahren wird. Zu ihnen gehören ihre Protagonisten Dorothea und Tertius. Ihnen gilt das Präludium zum Leben der Teresa von Ávila , das sie ihrem Roman voranstellt.
Der Roman ist 2019 in folgenden Neuübersetzungen erschienen:
George Eliot, Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz. Roman. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019, 1264 Seiten, gebundene Ausgabe 45 Euro. 2021 als Taschenbuch, 20 Euro.
George Eliot, Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz. Roman. Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Rainer Zerbst. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen, München: dtv 2019, 3. Auflage 2020, vollständig neu bearbeitete Ausgabe, 1152 Seiten, gebundene Ausgabe 28,00 Euro. 2021 als Taschenbuch, 14,90 Euro.
Elke Trost
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