Puccinis Oper „La Bohème“ im Staatstheater Darmstadt
Wenn sich der Vorhang zu Pucchinis Künstleroper hebt, präsentiert sich den Besuchern eine zweigeteilte Bühne. Über einer dunklen Baustelle mit Betonmischern und anderen Bau-Utensilien erhebt sich wie ein hermetisch abgeschlossener Raum das Atelier der vier Künstler – Dichter Rodolfo, Maler Marcello, Musiker Schaunard und Philosoph Colline – mit Ausblick auf die Stadt Paris. Unübersehbar symbolisieren Regisseur Daniel Herzog und sein Bühnenbildner Dirk Steffen Göpfter damit die Abkapselung der jungen Künstler von der realen Welt, der sie ihre Träume vom Ruhm entgegensetzen. Ihre Welt definieren sie in diesen vier Wänden mit Literatur, Malerei, Musik und Philosophie, und selbst Hunger und Kälte stören diese Träume nicht elementar, auch wenn Rodolfo für ein wenig Wärme ein ganzes Drama verheizt.
In diese selbst gewählte Enklave künstlerischer Autonomie und illusionärer Freiheit vom Diktat der Realität bricht die letztere in Gestalt des Vermieters Benoît, den man jedoch noch mit List und Tücke vertreiben kann. Dann jedoch sprengt die Liebe als außerkünstlerische Emotion das eingespielte Team der Wohngemeinschaft. Die junge Mimi verirrt sich bei einem Stromausfall – Herzog verlagert das Stück vorsichtig in ein eher modernes Paris – in Rodolfos Zimmer, und die beiden verlieben sich unsterblich ineinander, aus dramaturgischen Gründen binnen weniger Minuten.
Der Rest der Handlung ist schnell erzählt und erfüllt eher sentimentale Klischées als dass er wirkliche Konflikte aufblättert. Die Liaison geht an Rodolfos durch Verlustangst begründeter Eifersucht zugrunde, obwohl oder weil die beiden nicht voneinander lassen können. Im letzten Bild kehrt die todkranke Mimi zu Rodolfo zurück, nur um in seinen Armen zu sterben.
Die vier Bilder führen den Zuschauer nacheinander in das Atelier, in die ausgelassene Weihnachtsfeier eines Pariser Lokals, in einen dubiosen Nachtclub, in dem Marcello und seine zeitweise Geliebte Musetta Unterschlupf gefunden haben, und schließlich wieder zurück in das nun sommerlich erhellte Atelier. Zeigte das erste Bild die verzweifelte und illusionäre Selbstgenügsamkeit des Quartetts, so entfaltet das zweite Bild die ausgelassene Seite der jungen Bohemiens, die auch ohne viel Geld zu feiern wissen, jeden verdienten Franc sofort in die Wirtschaft tragen und ansonsten andere für sich bezahlen lassen. Im dritten Bild bahnt sich die Katastrophe an, wenn die bereits kranke Mimi Marcello im verschneiten Hafen aufsucht und sich über Rodolfos Eifersucht beklagt. Beim anschließenden Belauschen des Gespräches zwischen Marcello und Rodolfo erfährt sie, dass sie sterben muss. Das letzte Bild zeigt ein vom Frühsommer heiter beleuchtetes Atelier, in dem Marcello und Rodolfo scheinbar zufrieden vor sich hin arbeiten, in Wirklichkeit jedoch nur ihren verflossenen Geliebten nachtrauern. In diese nur scheinbar heitere Welt bricht dann noch einmal mit der sterbenden Mimi die grausame Realität ein. Der einzige Lichtblick zeigt sich in der unerwarteten Menschlichkeit der sonst so leichtlebigen Musetta, die sich rührend um die Sterbende kümmert und sich im Leid mit Marcello versöhnt.
Daniel Herzog hat die Personnage im ausgehenden 20. Jahrhundert angesiedelt. Dabei sind elektrischer Strom und Keyboard noch marginale Utensilien. Stärker tritt die Kleidung der Künstler in den Vordergrund, die bewusst auf eine fast pubertäre Protesthaltung verweist. Der aufgeblondete Musiker Schaunard läuft in Leder durchs Leben, Marcello trägt abgerissene Hosen und eine verwilderte rote Mähne, und Colline – ausgerechnet der Philosoph! – kommt wie ein Skinhead mit Glatze, militärischem Outfit und großflächigen Tattoos daher. Nur Rodolfo ist geradezu bürgerlich gekleidet und manierlich frisiert und nimmt schon dadurch eine Sonderstellung ein. Man fragt sich natürlich, warum Herzog diese Unterscheidung trifft und wo da die Ironie ansetzt. Denn als ein Lob des Bürgerlichen kann es ja wohl nicht gemeint sein. Wahrscheinlich ist es jedoch nur ein Kompromiss an die Musik, denn solch Innigkeit und Liebesleid lassen sich schlecht mit einem Revoluzzer-Ambiente verbinden. Durchweg jedoch bricht Herzog mit dem so romantischen wie falschen Klischée des für seine Kunst wonnig leidenden Bohemiens. Diese Kerle denken eigentlich mehr an das nahe liegende Gasthaus als an ihr Metier und leben mehr oder minder in den Tag hinein. Erst am Schluss, angesichts des tragischen Todes, bricht bei ihnen eine elementare und nur verschüttete Menschlichkeit durch, die sie ihr letztes Hab und Gut für die Todkranke versetzen lässt.
Über Puccinis Musik muss man nicht viel sagen. Sie setzt die emotional hoch verdichtete Handlung in idealer Weise in Klang und Motive um. Geradezu erschütternd markiert Puccini das Glück des jungen Paares, die Entsagung der sterbenden Mimi und die Verzweiflung Rodolfos. Als Kontrast dazu – und von manchem Besucher angesichts des tragischen Sujets als unpassend empfunden – präsentiert sich die Weihnachtsfeier im „Momus“ geradezu bacchanalisch. Hier feiert die reine Ausgelassenheit und die Ausschweifung Triumphe, und alle Sorgen sind für einige Stunden wie weggeblasen. Puccini verzichtet dabei weitgehend auf den Einsatz des großen Orchesters und zeichnet die Emotionen mit wenigen, fast solistisch agierenden Instrumenten nach, mal weiche Holzbläser, mal scharfes Blech und mal einzelne Streicher. Dabei ziehen sich die unverkennbar italienisch-kantilenen Melodiebögen wie ein roter Faden durch die Partitur. Neben den eingängigen „Ohrwürmern“ hört man jedoch erstaunlich oft relativ moderne Klänge, die bisweilen an Richard Strauss erinnern. Hier verweist Pucchini schon auf das nahende 20. Jahrhundert, obwohl er noch mit beiden Beinen im 19. steht.
Die sängerischen und schauspielerischen Leistungen sind durchweg beeindruckend. Mary Anne Kruger begeistert mit einem sehr warmen Timbre, dass sich vor allem in den entsagenden Szenen der Mimi voll entfaltet. Sie mag beim Sterben so manchem Besucher die Tränen in die Augen getrieben haben. Als ihr Pendant Rodolfo überzeugt Scott MacAllister mit einem strahlenden und durchsetzungsstarken Tenor, der sich jedoch auch in der Verzweiflung zurechtfindet. Hans Christoph Begemann interpretiert den innerlich zerrissenen Marcello mit viel Witz und Bewegung und ist dabei auch stimmlich immer auf der Höhe. Besonders gefällt auch Doris Brüggemann, die nicht nur den Mut zu ausgefallenen Kostümen aufbringt sondern auch den zwischen missgünstig-egozentrischer Gefallsucht und rührenden Mitmenschlichkeit schillernden Charakter der Musetta darstellerisch und stimmlich voll zur Geltung bringt, wobei sie sich auch nicht für schrille Schreckensschreie zu schade ist. Werner Volker Meyer (Schaunard) musste sich an diesem Abend wegen einer Erkrankung leider zurückhalten, während Tomas Fleischmann als Colline eher eine sängerische Nebenrolle spielt.
Das Orchester unter der Leitung von Raoul Grüneis intoniert Puccinis vielschichtige Musik mit viel Gespür für die Situation und wirkt oft wie ein zusätzlicher Solist, so präzis und durchsichtig kommen die einzelnen Instrumente und Motive zur Geltung. Die Emotionen der Personen lassen sich in vielen Fällen geradezu dem Klang und dem Timbre einzelner Instrumente entnehmen, und Raoul Grüneis setzt Pausen so wirkungsvoll ein, dass einmal sogar im Publikum spontan die Frage aufkommt: „Wo bleibt denn die Musik?“.
Der Chor des Staatstheaters findet in der zweiten Szene sein ideales Betätigungsfeld, in der vor allem die Vielfalt der szenischen Details für Tempo und Witz sorgt. Farbenprächtige Kostüme und ausgefallenen Ideen – ein veritabler Charly Chaplin mit Hut und Schnurrbart agiert als Kellner – runden diese Szene erfolgreich ab.
Die einzige Frage, die nach dem Fall des Vorhangs offenbleibt, lautet, was denn diese Inszenierung eigentlich aussagen will. Denn die Geschichte um den Tod einer jungen TBC-Kranken ist in gewisser Weise anachronistisch und nur schööön sentimental. Gewiss, die Musik intoniert diese tragische Liebesgeschichte einmalig, und der Schauer über den Rücken lässt sich nicht ableugnen. Eine allgemeine, bis in unsere Zeit weisende Aussage lässt sich der Inszenierung jedoch kaum entnehmen, wenn man die sarkastische Entlarvung der vier „Pseudo- Künstler“ nicht als ausreichende Grundlage einer Inszenierung betrachten will. Allerdings kann auch die optisch und akustisch gelungene Aufführung einer nicht mehr ganz zeitgemäßen Geschichte einen Genuss vermitteln und hat es in diesem Falle auch getan.
Das Publikum hat es jedenfalls so gesehen und allen Beteilgten mit begeistertem Beifall ( ein einziges „Buh“) gedankt.
Frank Raudszus
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