Der Antisemitismus des Nationalsozialismus und der daraus entstandene apokalyptische Holocaust sind wohl die einschneidensten Ereignisse der Moderne, mit denen sich nicht nur Politiker und Ethiker, sondern auch Philosophen auseinandersetzen mussten. Die Philosophie enthält sich zwar nicht normativer Aussagen und moralischer Urteile, aber sie sieht ihre Hauptaufgabe im Verstehen dessen, was sich in der Welt ereignet, und im Aufbau von Wissen über Beweggründe und Handlungen der menschlichen Gesellschaft. So erhebt denn auch der Autor dieses Buches, selbst 1976 in Jerusalem geborener Philosoph, keine flammende Anklage gegen die Begründer des alten wie neuen Antisemitismus, sondern er analysiert in erster Linie die philosophischen Reaktionen auf diesen, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei nimmt er sich selbst als urteilenden Bürger und Menschen – und vor allem Juden! – weitgehend aus dem Spiel und vergleicht nur die Arbeiten anderer und deren Reaktionen aufeinander. Seine persönliche – natürlich ablehnende – Positionierung gegenüber dem Antisemitismus schimmert zwar durch alle Ausführungen durch, ist aber kein Thema des Buches. Hier geht es in erster Linie um Logik, gedankliche Konsistenz und Widerspruchsfreiheit.
Lapidot unterteilt seine Analyse in zwei Hauptteile: den Anti-Anti-Semitismus und den Anti-Semitismus, in dieser Reihenfolge. Es mag ungewöhnlich erscheinen, dass erst die Reaktionen und anschließend die Ursache thematisiert werden, doch die Reihenfolge erweist sich als nachvollziehbar: erstens, weil der Antisemitismus kein neues Thema ist , und zweitens, weil eben gerade die philosophischen Antworten auf ihn Thema dieses Buches sind. Wie heute in Sachbüchern üblich, fasst Lapidot seine Ausführungen in der Einleitung in Kurzform zusammen, wohl, um die wesentlichen Aussagen auch Lesern ohne detaillierte Lektüreabsicht nahe zu bringen.
Am Beginn des Anti-Anti-Semitismus steht ausgerechnet Heidegger, der sich in seinen – spät erschienenen – „schwarzen Heften“ durch unsägliche antisemitisch-rassistische Äußerungen außerhalb der philosophischen Gemeinschaft gestellt hatte. Lapidot zitiert ausführlich die Reaktionen der (philosophischen) Öffentlichkeit, die von der Vermutung einer temporären Verirrung eines der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts bis zu der Aufforderung reichten, sein gesamtes Werk aus allen Universitäten und Bibliotheken zu entfernen.
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben sich unter dem Eindruck des Holocausts dem Antisemitismus explizit aus philosophischer Sicht genähert, um ihn zu verstehen und eine intellektuelle Gegenstrategie zu entwickeln. Sie entziehen dem Antisemitismus seine Basis, indem sie die Juden auf einfaches Menschsein zurückführen und ihm alle (eventuell kritikwürdigen) Besonderheiten absprechen. Damit zeigt der Antisemitismus ihrer Meinung nach paranoide Züge und agiert im logisch luftleeren Raum. Doch Lapidot kritisiert diesen Ansatz, da er die Juden als „partikulares“ Kollektiv quasi zum Verschwinden bringe und damit prinzipiell die selbe Logik verwende wie der von ihnen angegriffene Antisemitismus.
Ähnlich agiert für Lapidot Jean-Paul Sartre, der zwar weniger von den Juden als vielmehr von den Antisemiten ausgeht, aber zu einem ähnlichen Schlussfolgerung wie Adorno/Horkheimer kommt: die vom Ressentiment getriebenen Antisemiten haben für ihn erst das jüdische Kollektiv erfunden, um es umso vernichtender angreifen zu können. Für Sartre gibt es überhaupt keine Kollektive mit eigener Charakteristik, sondern nur Ansammlungen von Individuen. Lapidot sieht hier die gleiche logische „Eliminierung“ der Juden, indem die ihnen (von den Antisemiten) zugeschriebenen kollektiven Eigenschaften prinzipiell abgelehnt werden.
Im Gegensatz dazu sieht Lapidot bei Hannah Arendt eine logische Begründung des Antisemitismus in einer kollektiven jüdischen Partikularität, die sich letztlich aus Religion und Geschichte des jüdischen Volkes ergeben. Ohne diese Begründung auch nur andeutungsweise in eine eigene „Teilschuld“ umzumünzen, welche Befürchtung vielleicht auch für die Ablehnung solcher Partikularität bei Adorno/Horkheimer und Sartre eine Rolle gespielt haben mögen, liefert Arendt für Lapidot einerseits eine logische Herleitung des Antisemitismus und gesteht den Juden andererseits eigene kollektive Eigenschaften zu.
Bei Alain Badiou wird die Angelegenheit außerordentlich komplex. Hier spricht der rein logisch-philosophisch vorgehende Intellektuelle, der die Gedankenführung über das Thema konsequent abstrahiert und schließlich bei der Abstraktion der Abstraktion landet. Seine von Lapidot kritisch zitierten Ausführungen lassen sich von einem philosophisch nicht geschulten Leser nur schwer nachvollziehen, da sie kaum noch konkrete Verweise auf Juden oder Antisemitismus enthalten, sondern sich hauptsächlich mit den epistemologischen Problemen der Gedankenführung sowohl des Antisemitismus als auch des Anti-Anti-Semitismus beschäftigen. Doch auch er bestätigt einen kollektiven jüdischen Partikularismus, der als Anlass für Antisemitismus dienen könnte.
Ähnlich anspruchsvoll und kompliziert verfährt Jean-Luc Nancy. Auch er sieht – als Jude – ein eigenes jüdisches Kollektiv mit ausgeprägten Eigenschaften, lässt sie sozusagen nicht in der von Adorno oder Badiou konstatierten Paranoia der Antisemiten zum Verschwinden bringen. Sein Hauptaugenmerk gilt jedoch der von Hannah Arendt ins Spiel gebrachten „Banalität“ des Antisemitismus, die er noch weiter ausinterpretiert und am Beispiel Heideggers nachweist.
Den zweiten Teil widmet Lapidot dem Antisemitismus. Dabei beginnt er mit dem französischen Antisemiten Renan, der bereits im 19. Jahrhundert wegweisende Abhandlungen über die angebliche Minderwertigkeit der jüdischen „Rasse“ verfasste. Hier kommt zum ersten Male der Begriff „Rasse“ ins Spiel, während die Anti-Anti-Semiten des ersten Teils eher über „Juden“ oder den – inkonsistenten – Begriff „Semiten“ gesprochen haben. Renan kommt von den semitischen Sprachen, die für ihn gegenüber den indogermanischen – „arischen“ – den Nachteil aufwiesen, keine Kultur oder Politik erschaffen zu können, und damit kein „Volk“. Schon hier waren also alle Zutaten für einen kräftigen Antisemitismus vorhanden. Renan stellte dabei als Wissenschaftler den Anspruch, den Antisemitismus wissenschaftlich belegen und endgültig gesellschaftsfähig machen zu können.
Über den deutschen Theologen und Religionskritiker Bruno Bauer, der sowohl Juden als auch Christen eine wahre Emanzipation nur durch Überwindung der Religion zugestand und damit sozusagen die Juden (fast) auf eine Stufe mit den Christen stellte, kommt Lapidot zu Karl Marx, der sich ebenfalls als veritabler Antisemit zeigte. Marx sah das Judentum als vergiftendes Element, das letztlich das gesamte Bürgertum in eine jüdisch denkende „Bourgeoisie“ umwandelte. Diese war für ihn quasi das verinnerlichte Judentum, und nur die Aufhebung der Klassengesellschaft und das Verschwinden der Bourgeoisie konnten für ihn die „Judenfrage“ lösen. Von hier aus lässt sich auch der latente Antisemitismus der marxistisch geschulten Linken verstehen.
Im Gegensatz dazu sieht Lapidot bei Hitler und den Nationalsozialisten einen anderen Ansatz. Hier verschwindet der Jude zwar auch durch Assimilation im Bürgertum, aber nur um das bewusst angesteuerte Ziel einer Machtübernahme zu realisieren. Die Juden verschwinden für Hitler also nicht im Bürgertum, sondern sie verstecken sich in ihm zum Zweck einer Weltverschwörung. Daher lässt sich das Problem für Hitler auch nicht sozio-ökonomisch lösen, sondern nur durch die Vernichtung des Judentums. Hier kommt der alte logische Fehlschluss deutlich zum Vorschein, dass gerade die – wegen der Assimilierung der Juden – fehlenden Beweise für eine Weltverschwörung die besondere Perfidie dieser Verschwörung zeigen.
Zum Schluss kommt Lapidot noch einmal auf Heidegger zurück und stellt die anfangs etwas steil anmutende These auf, dass gerade der antisemitische Philosoph zum Talmud – dem Buch über die jüdische Religionspraxis – führe. Minutiös belegt Lapidot anhand verschiedener Textstellen Heideggers und mit entsprechender Interpretation, dass Heideggers Denkweise ähnliche Strukturen aufweist wie der Talmud. Dieser abschließende Beitrag ist jedoch nicht als fast schon etwas versöhnliche oder gar humoristische Abrundung des Buches gedacht, sondern bleibt bis zum letzten Satz auf dem ernsthaften, konzentriert philosophischen Niveau der vorgehenden Ausführungen. Lapidot sieht eine tiefe Verwandtschaft zwischen jüdischer und westlich-christlicher Denkweise, was ja aufgrund der Genese des Christentums aus dem Judentum nahe liegt.
Dieses Buch bietet wahrlich keinen einfachen Einstieg in das Problem des Anti-Semitismus und der Gegenbewegungen, da es sich aller wohlfeilen – moralischen und politischen – Äußerungen enthält und sich durchgehend auf einem hohen intellektuell-philosophischen Niveau bewegt. Diese Buch liest man nicht, man arbeitet es durch.
Das Buch ist im Verlag Matthes&Seitz erschienen, umfasst 400 Seiten und kostet 28 Euro.
Frank Raudszus
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