Viele Sachbücher behandeln ihr Thema in einem großen Bogen, dessen Spannung gegen Ende nachlässt und nur noch einige unbedeutende Randthemen aufgreift. Das vermeidet Peter Sloterdijk in seinem neuen Buch über die Religionen ganz bewusst. Hier steht am Ende eine Erkenntnis, die einen engen, den Verhältnissen inhärenten Zusammenhang zwischen der menschlichen Position in der Welt und den – von ihnen geschaffenen – Religionen herstellt. Demnach ist der Mensch durch seine Geistes- und Sprachbegabung aus dem System der genetisch vorgegebenen Lebensziele herausgelöst und muss sich seine Ziele selber suchen. Er ist laut Sloterdijk mit einer höchst ambivalenten Freiheit ausgestattet, die ihm die Wahl zwischen vielen konkurrierenden Zielen und Wertesystemen lässt. Dieser Wahl ist der Mensch selten gewachsen, und so besteht trotz Säkularisierung der Wunsch nach einem externen Wertesystem und dessen Zielvorstellungen bis in das 21. Jahrhundert fort.
Deshalb räumt Sloterdijk den Religionen trotz aller – ironische gefärbten – Skepsis auch heute noch eine wichtige Rolle ein. Obwohl die meisten – sozialen, karitativen, psychologischen – Rollen der Religion durch die Säkularisierung erfolgreich in staatliche, d.h. säkulare Hände übergegangen sind, bleibt ein spiritueller Rest, den das rationale System des Staates nicht bedienen kann. Hier kann die Religion zwar eine wichtige Rolle spielen, sie muss sich dabei aber mit zwei starken Konkurrenten messen: den Künsten und der Philosophie, die beide ebenfalls, wenn auch auf verschiedene Weise, den spirituellen Bedürfnissen des Menschen auf den Grund gehen.
Sloterdijk stellt seine Religionsbetrachtungen unter das Motto der poetischen Fiktion. Demnach sind Göttergeschichten – sprich: Religionen – Erzählungen, die Gemeinschaft unter den Menschen stiften sollen. Die Alltagsthemen des menschlichen Lebens führen eher zu Auseinandersetzungen um Ressourcen als zum Gemeinsinn, und so sind Referenz und Reverenz an höhere Mächte schon immer ein Mittel der Disziplinierung im irdischen Hier und Jetzt gewesen. Kurz streift Sloterdijk das Mehrgöttersystem der Antike, um dann auf Platon zu verweisen, der schon im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung – übrigens die durchgehend genutzte Art der Zeitangaben in diesem Buch – die Vermenschlichung und die Streitereien der griechischen Götter als dem Begriff des „Göttlichen“ unangemessen zurückgewiesen und eine abstrakte, nicht mit irdischen Maßstäben zu messenden Definition der Gottheit gefordert hat.
Auch auf den frühen ägyptischen Monotheismus und den davon abgeleiteten israelitischen Glauben kommt Sloterdijk zu sprechen und stellt dabei vor allem das Prinzip der „Nachahmung“ in den Vordergrund. Die Pharaonen ahmten in ihrer Gottgleichheit die Gottheit nach, und dieses Nachahmungskonzept übertrug sich später auf die anderen monotheistischen Religionen in Gestalt der Evangelisten, der römischen Kaiser, der Päpste und der „von Gott eingesetzten“ Monarchen späterer Zeiten.
Ein Kapitel beschäftigt sich mit der religiösen Reaktion auf die Kräfte der realen Welt, seien es die bisweilen zerstörerische Natur, andere Katastrophen oder – letztlich – der Tod. Die religiösen Kulte haben diese Naturkräfte in ihre Erzählungen einbauen müssen, um sie für die Menschen erträglich zu gestalten. Auch die Plausibilität stellt dabei ein schwieriges Thema dar, denn jeder Gläubige will in einer konsistenten Welt leben, die alles erklärt. Da passen konkurrierende Glaubenssysteme mit vergleichbarer Überzeugungskraft nicht hinein. Religiöse Toleranz ist „per definitionem“ unmöglich, und gerade der uneingeschränkte Glaube verlangt die Bekehrung oder gar die Eliminierung der Andersgläubigen.
Ein Kapitel widmet Sloterdijk der „Offenbarung“, wie sie einzelnen Heiligen unmittelbar durch Gott widerfahren ist. Diese Offenbarungen stellen ein ambivalentes Phänomen dar, da sie als Zwiegespräch zwischen Gott und dem individuellem Menschen nicht nachprüfbar sind. Ungeprüfte Akzeptanz seitens der religiösen Autoritäten kann und wird zu einer Offenbarungsinflation führen, auf der anderen Seite sind sie bei entsprechender Glaubwürdigkeit einzigartige „Beweise“ göttlicher Existenz zumindest im Kreise der Gläubigen. Das führte natürlich im Christentum zu ausgesprochen langwierigen Diskussionen und komplexen klerikalen Anerkennungsprozeduren der einzelnen Offenbarungsmeldungen. Sloterdijk betrachtet dieses Phänomen jedoch nicht aus der ironischen Perspektive einer späten Säkularisation, sondern geht den einzelnen Beweggründen sowie den religiösen und gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Offenbarungen nach. Das ist generell die Stärke dieses Buches, dass es die Religion nie denunziert, sondern ihren einzelnen Erscheinungformen aus ihrem jeweiligen zeitlichen Kontext auf den Grund geht.
Im Zusammenhang mit der Offenbarung geht Sloterdijk auch auf den (fast) zeitgenössischen Theologen Karl Barth ein, der alle Religionen schlichtweg als menschliche Fiktionen, ja: Lügen bezeichnete und nur die christliche „Offenbarung“ gelten ließ, die ihm selbst zuteil geworden sei. Sloterdijk nimmt diese Selbsterhöhung zwar mit mildem Sarkasmus hin, geht aber dennoch auf die Einzelheiten detailliert ein. Passend dazu erwähnt er auch das von Heinrich Denzinger herausgegebene Kompendium der (katholischen) Glaubensbekenntnisse, das an surrealistischer und cirkulärer Logik angeblich nicht mehr zu überbieten ist.
Im zweiten Teil beschäftigt sich Sloterdijk vor allem mit den verschiedenen Ausprägungen der „religiösen Poesie“. Dazu gehört das Lob, am deutlichsten ausgedrückt in den verschiedenen Schöpfungsgeschichten sowie in vielfältigen „Erhöhungsreden“, ebenso wie die Geduld, die sich vor allem in dem ewigen Warten auf das „jüngste Gericht“ zeigt. Die frühen Evangelisten konnten die Gläubigen nur mit dem Hinweis auf das nahende Ende der Welt und die Hoffnung auf Rettung vor den Höllenqualen durch schnelle Bekehrung bei der Stange halten, denn die Aura von Jesus drohte andernfalls im Laufe der Zeit zu verblassen. Andererseits stellte sich dabei die Frage, was mit den noch nicht Erreichten sei, die ohne Bekehrungschance der Hölle zum Opfern fallen würden. Dies erforderte eine permanente Verschiebung des Weltenendes mitsamt dem Jüngsten Gericht, was wiederum von den bereits Bekehrten große Geduld erforderte. So wurde die Geduld ein zentrales Thema der religiösen Literatur, wie man heute noch an den Zeugen Jehovas sehen kann.
Auch die Übertreibungen stellen laut Sloterdijk ein wichtiges Element der religiösen Erzählungen dar. Da Jesus mit dem Tod am Kreuz die Sünden der Welt auf sich genommen habe, müsse das Ziel aller Gläubigen sein, ihm nachzueifern. Dies führte im Laufe der Zeit zu sich gegenseitig überbietenden Übertreibungen bei Askese und Weltentfremdung, die nicht selten zum Tode führten, was in gewissem Sinne – trotz des Selbstmordverbots! – auch das Ziel der Asketen war. In diese Kategorie fallen auch die grausamen Hinrichtungen der Inquisition, die dem Delinquenten durch sein Leid eine Chance zur Seelenrettung geben sollten.
Auch die Propaganda ist der religiösen Erzählung nicht fremd. Sloterdijk beschreibt ein ganzes Bündel von offensiven Bekehrungsreden, die nicht selten mit Verdammnis und Höllenqualen im Fall einer Bekehrungsverweigerung drohten. In diesem Zusammenhang kommt er auch auf den Islam zu sprechen, der die aktive Expansion des Glaubensgebietes aufgrund der militanten Biographie des Begründers Mohammed von Anfang an im Programm hatte. Doch auch das Christentum und andere Religionen kannten die Vorteile oder auch die Not eines fast schon aggressiven Bekehrungsangebots.
Zum Ende, noch vor der bereits geschilderten Schlussbetrachtung, widmet sich Sloterdijk noch dem suchenden Menschen. Die Suche nach Wahrheit, Erlösung und innerem Frieden ist ein zentrales Thema nicht nur der Religionen, sondern der menschlichen Existenz überhaupt. In diesem Sinne erzählen die Religionen nur passende Geschichten zu dieser (Sinn-)Suche. Dabei transzendiert sich das Ziel und Ende der Suche in den meisten Erzählungen in einem „Nicht-Finden“, denn der Mensch kennt die Wahrheit nicht und wird sie nie verstehen. Gerade ihre Jenseitigkeit und Übermenschlichkeit verhindert von vornherein das Finden der endgültigen Wahrheit über die Welt, das Jenseits und eventuelle Gottheiten. Den Verfassern dieser Sinnsuche-Geschichten ist dies meist im Zuge der Entwicklung ihrer Erzählungen auch klar geworden, so dass sie die Suche selbst zum Ziel machen, frei nach dem verballhornten Satz „Der Weg ist das Ziel“.
Sloterdijk beschreibt all diese Wege und Sackgassen mit hoher Sachkenntnis, umfangreichen Quellenzitaten und Detaillierungen auch fremdartiger oder außerhalb des allgemeinen Fokus´ liegenden Autoren und Narrativen im Laufe einer mehrtausendjährigen Religionsgeschichte. Dabei besticht er – wie immer – durch einen luziden Stil, der jeden Satz mit Zusatzinformationen bis zum Rand anfüllt und damit die permanente Aufmerksamkeit des Lesers erfordert. Obwohl er sich durch seine fein-distanzierte Ironie als Agnostiker zeigt, verzichtet er auf jegliche Polemik und auch weitestgehend auf bissige Ironie oder gar Spott, sondern achtet sowohl die Beweggründe für religiöse Empfindungen als auch die dahinter stehenden Verfasser der entsprechenden Erzählungen aus nahezu drei Jahrtausenden. In diesem Buch können sich nicht nur säkulare Skeptiker sondern auch Gläubige wiederfinden, insofern letztere über eine gewisse Selbstdistanz verfügen.
Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 344 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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