In ihrem Buch „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“ versammelt Helga Schubert 29 Erzählungen, die alle als Skizzen und Erinnerungen der Autorin miteinander zusammenhängen. So ist es eher ein autobiographischer Roman geworden. Es scheint, dass die so uneitle Autorin sich nicht anmaßen möchte, ihr Buch „Roman“ zu nennen.
Worum geht es in diesen Skizzen und Erinnerungen?
Da ist als roter Faden die problematische Beziehung zur Mutter, die mit 25 Kriegerwitwe wird, ihre 5-jährige Tochter und sich selbst auf der Flucht retten kann und ihr ganzes weiteres Leben alleine bleibt. Liebe hat sie im Elternhaus nicht erfahren, der Mann stirbt zu früh, um das zu kompensieren. So kann sie auch ihrem Kind keine Liebe geben, aber im Alter – sie wird 101 Jahre alt! – immerhin ihre Achtung vor der Lebensleistung der Tochter ausdrücken. Mit großem emotionalen Abstand erzählt Helga Schubert von dieser Mutter. Es geht ihr nicht um Anklage oder gar Selbstmitleid, vielmehr will sie verstehen, warum die Mutter so geworden ist, wie sie ist. Dadurch reißt sie Hintergründe auf, die Familienstrukturen und politische Situation in ihrer Wirkung auf einen Menschen darstellen.
Die Mutter wird so erkennbar als eine Frau, die ein unbändiges Nachholbedürfnis hat, nachdem sie außer dem nackten Leben und einem Taschentuch in der Handtasche nichts retten konnte. Ihr Leben wird bestimmt sein von Kaufsucht, insbesondere der Sucht nach Büchern, und den damit verbundenen Schulden. Dennoch ein Frauenleben, das auf Unabhängigkeit und Bedürfnisbefriedigung beruht.
Die Schuldgefühle der Tochter, weil sie diese Mutter nicht im Sinne des 4. Gebots lieben kann, werden schließlich von einer Pastorin aufgelöst. Im 4. Gebot steht nichts davon, dass wir unsere Eltern lieben müssen, wir müssen sie aber ehren. Das kann die Tochter als reife Frau.
Dieser analytische, verstehende Blick auf die eigene Lebensgeschichte prägt auch die Erzählungen, die die Familiengeschichte in den Blick nehmen. Helga Schubert interessiert, warum Großmütter und Urgroßmütter so wurden, wie sie waren, warum die eine Liebe geben konnte und die andere nicht. Es interessiert sie, warum der eine oder die andere in die NSDAP eintrat, während andere als überzeugte Kommunisten in großer Gefahr leben mussten. Auch bei diesen Themen ist sie nicht moralisch und urteilt nicht, sie zeigt. Urteilen können die Leserinnen und Leser.
Zum Spektrum der Themen gehört auch das Leben in der DDR. Während große Teile der Verwandtschaft bis in den Westen fliehen, bleibt die Mutter mit der Tochter zunächst in Greifswald, später leben sie in Ost-Berlin. Auch hier keine Verbitterung, vielmehr liest man aus den Erzählungen den positiven Grundton: Wir haben im Osten anders gelebt, aber wir haben auch gelebt, sie allerdings mit einer Mutter, die mit der Tochter Rias Berlin hört und sie auf die unterschiedliche Darstellung der politischen Verhältnisse hinweist. Dafür wird die erwachsene Tochter der Mutter dankbar sein.
Sehr berührend sind die Erzählungen, die sich auf die Ehe beziehen. Helga Schubert erzählt von einem sehr innigen Verhältnis, in dem beide Partner die Eigenarten und Vorlieben des anderen achten und in dem gleichzeitig beide ihren Bedürfnissen nachgehen können. Diese tiefe Zuneigung klingt besonders stark in der Erzählung an, die die Krankheit und offenbar auch Verwirrtheit des Ehemannes schildert. Sie als Ehefrau gibt die Liebe und Fürsorge zurück, die sie in besseren Zeiten von ihm erhalten hat. Auch hier keine Klage, kein Hadern, sondern Annahme der Situation und der damit verbundenen Aufgaben.
Alt-Sein ist ebenfalls ein Thema der 80-jährigen Autorin / Erzählerin. Hier schreibt eine altersweise Frau, die nicht jünger sein will, als sie ist, die in der Gegenwart angekommen ist und die sich mit großer innerer Ruhe Zukunftsgedanken an mögliche großartige Erlebnisse verbietet. Sie konstatiert: „Nicht Angst vor dem Alter, nicht Angst vor Siechtum und Tod, sondern: alt sein“, denn das „ist das Gute, das Sanfte, das Glückbringende am Alter: Ich muss gar nichts“.
Was treibt sie an zu schreiben? Schreiben bedeutet den temporären völligen Rückzug von allen Menschen, die einem lieb und wichtig sind. Warum tut sie sich das an? Es ist die zentrale Erfahrung, die erst beim Schreiben kommt: „Nichts ist klar so oder so“. Geschichten sind „Mikroskop“, sind „Spiegel“. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch das scheinbar unwichtige Erlebnis an Bedeutung.
Helga Schubert schreibt ihre autobiographischen Erzählungen in einer souveränen Sprache, die sowohl kurz und knapp, fast elliptisch, sein kann als auch lange Satzperioden enthält, die die Leserin in den Gedankenfluss mitnehmen. Sie kann humorvoll sein, über sich selbst ironisch lächeln, etwa wenn sie beim Arzt mit ihrem Alter kokettiert oder ihre Erfahrungen mit Fastenwochen schildert.
Es ist ein Buch, das insbesondere der alten Leserin Mut macht zu ihrem eigenen Alter, möglicherweise manche motiviert, selbst über das eigene Leben zu schreiben.
Besonders beeindruckt die Autorin / Erzählerin die Leserin damit, wie sie mit 80 noch so voll im Leben steht und alle altersgemäße Unbill akzeptiert, da es doch noch so viel Schönes zu tun und zu erleben gibt:
„Und wenn ich noch zehn Jahre vor mir hätte? Zehn Winter, zehn Frühlinge, zehn Sommer, zehn Herbstzeiten?“
Insgesamt ist das ein ermutigendes Buch, das auffordert, das eigenen Leben anzunehmen, statt zu hadern; das die Angst vorm Alter nimmt, weil es so viel zu ernten gibt.
Das Buch ist im dtv Verlag erschienen, hat 224 Seiten und kostet 22 Euro.
Elke Trost
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