Ottessa Moshfegh lässt in ihrem 2021 auf Deutsch erschienenem Roman „Der Tod in ihren Händen“ die 72-jährige Vesta Guhl ihren eigenen Krimi entwerfen. Aber dieser Roman ist nur scheinbar ein Krimi, tatsächlich ist es eine Erzählung über Alter, Einsamkeit und zunehmenden Realitätsverlust.
„Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“
Mit diesen Sätzen beginnt der Roman. Die Leserinnen und Leser werden eindeutig auf die Spur eines Kriminalfalles gesetzt, ebenso wie Vesta, die Erzählerin. Sie findet einen weißen Zettel mit diesen Worten an einem Frühjahrsmorgen in einem Birkenhain in der Nähe ihres Häuschens.
Seit etwa einem Jahr lebt Vesta in dem einsamen Haus am See, nur mit ihrem Hund Charlie. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie in ihrem Heimatort alle Zelte abgebrochen, um sich in einen winzigen Ort in der US-amerikanischen Provinz zurückzuziehen und endlich ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie präsentiert sich als noch recht fit und selbständig, fühlt sich auch sicher mit dem Hund als Beschützer und Gefährten an ihrer Seite.
Die merkwürdige Nachricht auf dem Brief bewirkt einen Einschnitt in ihrem gut geregelten Alltag. Sie beginnt, eine mögliche Geschichte zu entwerfen, die sie zunehmend in ihren Bann zieht. Alle Begegnungen im Alltag bezieht sie auf diese Geschichte. Sie entwirft ein Bild der Ermordeten sowie auch ein Bild des möglichen Täters. Merkwürdigerweise gibt es bis auf den Brief in ihrer Umgebung keinerlei Hinweis auf das Verschwinden einer Frau oder überhaupt auf ein Verbrechen. Aber sie ist sich sicher, dass es dieses Verbrechen gibt und dass es ihre Aufgabe ist, es aufzuklären.
Ihre Überlegungen über mögliche Motive und Hintergründe der Tat lassen sie auch über sich selbst nachdenken. Das führt dazu, dass sie in ihre kreativen Gestaltungsschritte Phasen der Selbstreflexion einflicht, die sich zu einem großen Teil auf ihre Ehe mit dem Deutschen Walter beziehen. Was zu Beginn wie eine harmonische Beziehung wirkt, entpuppt sich als eine recht asymmetrische Konstellation, in der Walter ihr keine Eigenständigkeit zutraut, ihr die Deutungshoheit über ihr Leben nimmt, da er als Akademiker meint, alles über sie zu wissen. Vesta erkennt, dass sie mit ihm ihr Leben verschwendet hat und dass sie ihn jetzt auch in ihrer Erinnerung loswerden muss, um sich von ihm zu befreien. Die Versenkung seiner Urne im See ist ein Schritt in diese Richtung.
Alles sieht so aus, als wenn Vesta endlich ein selbstbestimmtes und stabiles Leben führen kann, das sie mit ihrem Hund teilt. Die Menschen braucht sie nicht, jedenfalls glaubt sie das.
Tatsächlich vermischen sich in ihrer Wahrnehmung immer mehr Realität und Fantasiewelt, so dass man als Leserin zweifelt, ob die Erzählerin überhaupt noch glaubwürdig ist. Deren Schilderung ihrer sporadische Begegnungen lassen die anderen Menschen als merkwürdig erscheinen. Aber das ist Vestas Sicht, eine Außensicht erhalten wir nicht. Was stimmt also in Vestas Erzählung? Hat es diesen Brief überhaupt gegeben, oder ist der selbst auch schon ein Fantasieprodukt?
Alles ändert sich, als der Hund plötzlich verschwindet und völlig verändert wieder auftaucht.
Was sich nun ereignet, soll hier nicht verraten werden. Nur so viel, dass Vesta zu einer realistischen Einschätzung ihrer Situation nicht mehr in der Lage ist. Abgeschnitten von fast jeder Kommunikation – sie hat nicht einmal ein Telefon –, kann sie auch keine Hilfe holen.
Ein verstörender Schluss lässt mehr Fragen offen, als er beantwortet.
Was Ottessa Moshfegh zu Beginn anlegt als den kreativen Schreibprozess, den wir als Leserinnen mit nachvollziehen können, ist tatsächlich die Geschichte einer zunehmenden Vereinsamung. Vestas Rückblicke auf ihr Eheleben an der Seite eines Universitätsdozenten mit hochkarätigen Empfängen, eleganter Kleidung und gesellschaftlicher Anerkennung lassen ahnen, dass die innere Vereinsamung schon in dieser Ehe begonnen hat, in der sie nur das Schmuckstück war, jedoch keine Partnerin auf Augenhöhe.
Der Versuch, diese Äußerlichkeiten abzuwerfen, sich in die Natur zurückzuziehen und auch an die Stelle der Selbstinszenierung als Professorengattin einen einfachen Lebensstil zu setzen, scheitert. Offenbar war es ihr verwehrt, eigene Interessen zu entwickeln und zu verfolgen. Der Entwurf der Detektivgeschichte ist ein Versuch, Herrin über Leben und Tod zu sein, wenn auch nur als Autorin. Damit hätte sie den „Tod in ihren Händen“, wie sie auch die Urne mit der Asche ihres verstorbenen Mannes in ihren Händen hält. Sie kann entscheiden, was damit geschieht.
In der Geschichte verheddert sie sich, sie findet zu keinem Ende. So bleibt ihr nur ihre eigene Geschichte und die Zuversicht, dass sie ihren eigenen Tod in ihren Händen hält.
Ottessa Moshfegh lässt ihre Vesta diese Geschichte wie ein Drama erzählen. Zu Beginn werden wir in die Situation und die Vorgeschichte eingeführt, dann entwickelt sich der Konflikt um den möglichen Mordfall. Das alles mit retardierenden Elementen des Rückblicks und der Reflexion. Bis dann zum Schluss der Erzählprozess immer mehr beschleunigt wird. Als Leserin befindet man sich in einem wirklichen Krimi, nicht in dem von Vesta erfundenen. Man möchte unbedingt wissen, wie sich alles auflöst oder nicht auflöst. Und dann klingt sie Erzählung sanft aus.
Packend ist dieser Roman in seiner psychologischen Raffinesse, mit der Ottessa Moshfegh den Weg ihrer Protagonistin von Optimismus und scheinbarer Vitalität zu innerer und äußerer Verwahrlosung verfolgt.
Ein unbedingt empfehlenswerter Roman!
Der Roman wurde von Anke Caroline aus dem Englischen übersetzt.
Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen, hat 255 Seiten und kostet 22 Euro.
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