Die Hauptfigur in Mithu Sanyals neuem Roman „Identitti“ ist die Studentin und Bloggerin Nivedita Anand. Wie die Autorin ist sie eine „Mixed-Race“ Person of Colour, kurz „PoC“. Nivedita lebt – wie ihre Autorin – in Düsseldorf-Oberbilk, einem Stadtteil, in dem heute Menschen aus etwa 100 Nationen zusammenleben.
In ihrem Blog nennt sich Nivedita „Identitti“ oder „Mixed-Race Wonder-Woman“. Damit schlägt sie das Thema an, das sie umtreibt. Als Kind eines indischen Vaters und einer polnischen Mutter ist sie in Düsseldorf geboren und aufgewachsen, ihre „Muttersprache“ ist Deutsch, auch ihr Pass weist sie als Deutsche aus, aber sie ist es dennoch nicht. Als PoC erlebt sie sich täglich als anders und wird auch von Außenstehenden wegen ihrer dunkleren Hautfarbe als anders erkannt. Geprägt hat sie die Erfahrung, als Deutsche ständig mit der Frage nach ihrer Herkunft konfrontiert zu werden. Ihrer Verwirrung über ihre eigene Identität gibt sie auf ihrem Blog in Gesprächen mit der hinduistischen Göttin Kali Ausdruck. Kali verkörpert selbst das Nicht-Festgelegte, sie ist sowohl männlich als auch weiblich, sie ist schwarz und auch wieder nicht schwarz. Sie wird zu Niveditas innerer Stimme, die ihr in konfliktvollen Lebenssituationen als innere Ratgeberin dient. Und die wird sie bitter nötig haben.
Nivedita studiert „Postcolonial Studies“ bei der indischen Professorin Saraswati, die ihr hilft, sich aus ihrem Identitäts-Chaos zu befreien und sich als Person zu definieren statt nur aufgrund ihrer unklaren ethnischen Herkunft. Als sich herausstellt, dass Saraswati die indische Identität und damit den Status als PoC künstlich hergestellt hat, um nicht mehr als „Weiße“ zu gelten, fühlt Nivedita sich betrogen und in ihrer Suche nach sich selbst verunsichert. Über Saraswati ergießt sich ein Shitstorm in den sozialen Medien, ihre bisher größten Anhängerinnen in ihren Seminaren wenden sich gegen sie. Nur Nivedita will von ihr selbst wissen, warum sie mit ihrer extremen Form kultureller Aneignung einen solchen Verrat an allen PoCs begangen habe.
In nächtelangen Streitgesprächen ergibt sich eine grundsätzliche Erörterung des Begriffs „Race“ bzw. „PoC“, insofern Saraswati die schlichte Gegenüberstellung von PoC und Weiß-Sein in Frage stellt. „Weiß“ ist für die ebenso eine „Colour“, die nicht nur mit Privilegien besetzt ist, sondern selbst schon eine Diskriminierung darstellt, insofern allen Weißen Rassismus und Diskriminierung unterstellt werde.
Diese Auseinandersetzung führt Mithu Sanyal auf mehreren Ebenen. Die Professorin differenziert auf hohem akademischen Niveau. Sie kritisiert eng-geführte ethnische Definitionen von Identität, insofern sie Identität immer mit der Hautfarbe in Verbindung brächten und dabei die jeweilige, von ethnischer Zugehörigkeit unabhängige individuelle Persönlichkeit ignorierten. „Race Identität“ sei ebenso konstruiert und damit konstruierbar wie etwa „Gender Identität“ und damit auch veränderbar.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die ihrerseits zeitlebens in der mehrheitlich weißen Gesellschaft Verletzung und Diskriminierung erfahren haben und gerade von Saraswati Unterstützung in ihrem Streben nach Selbstbehauptung und in ihrem Kampf gegen Ausgrenzung gesucht haben. Sie fühlen sich in höchstem Maße getäuscht. Mithu Sanyal gelingt es, dieser Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. Sie lässt die Reaktionen über Twitter und Instagram in ihrer Unmittelbarkeit und inhaltlichen Verkürzung auf die Leserschaft los. Da steht Wütendes gegenüber Nachdenklichem, Hasserfülltes neben Verständnisvollem. Damit verstärkt sich der Eindruck von Authentizität, zumal Mithu Sanyal Fiktion und Wirklichkeit gleichermaßen einfließen lässt. Sie hat bekannte Persönlichkeiten aus der PoC-Community gewinnen können, für ihre Geschichte Tweets zu schreiben. Zudem werden in den Diskussionen der eigentlichen Erzählung immer wieder real lebende Autorinnen und Autoren zitiert, die sich in der wissenschaftlichen Szene der Rassismus- wie auch der Genderforschung einen Namen gemacht haben. Damit öffnet sich für die Leserschaft ein großes Feld für vertiefende Lektüre.
Die zentrale Diskussion um den richtigen Kampf für mehr Mitmenschlichkeit jenseits aller Hautunterschiede findet sich auf der Ebene der Erzählung. Nivedita führt Gespräche mit wütenden Freundinnen, die sich auf kein Gespräch mit Saraswati einlassen wollen, während sie selbst ihrer Professorin und Freundin mit ihren drängendsten Fragen und Vorwürfen begegnet. Sie will wissen, welche Motive hinter deren „racial transgression“ stehen. Dabei kommen familiäre Hintergründe zutage, die Saraswati ihr Leben lang verfolgt haben.
Für Nivedita führt die verwirrende Situation auf den Weg zu sich selbst: Sie kann sich aus der inneren Abhängigkeit von der verehrten und geliebten Lehrerin lösen, sie kann die demütigende Beziehung zu ihrem Freund beenden, und sie kann auf Augenhöhe mit vormals bewunderten Freundinnen kommunizieren. Auch die Göttin Kali als Hilfskonstruktion in schwierigen Situationen benötigt sie nicht mehr.
Zum Schluss bleibt der Verdacht, dass Saraswati ihre Trans-Race-Rolle aus Berechnung gespielt haben könnte. Schließlich geht sie aus dem Skandal mit einem bedeutenden Karrieresprung hervor.
Mithu Sanyal ist ein herausforderndes und gleichzeitig verwirrendes Buch gelungen. Sie hält der zurzeit über-aufgeregten Diskussion über Rassismus den Spiegel vor, wenn schon betroffene „PoCs“ nicht mehr wissen, wann sie selbst rassistisch sind, von den Weißen ganz zu schweigen. Sie mahnt grundsätzlich mehr Sensibilität in jeder Hinsicht an, denn die Überbetonung der Diversität birgt die Gefahr des Auseinanderdriftens der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, d.h. von mehr Desintegration als Integration. So bleiben am Ende mehr offene Fragen als Antworten: Was ist angemessene Integration? Ist die indischstämmige Frau nur dann echt, wenn sie sich auch wie eine Inderin kleidet? Oder stimmt auch das wiederum nicht? Darf die Nicht-Inderin sich indisch kleiden oder muss das als kulturelle Aneignung verurteilt werden? Wer bin ich, wenn meine Eltern aus unterschiedlichen Kulturkreisen stammen? Was bedeutet kulturelle Aneignung? Die Leserinnen und Leser können sich um diese Fragen nicht herumdrücken, denn die Autorin stellt sie ihnen allen.
„Identitti“ zeigt uns, dass wir alle, ob weiß oder „PoC“, betroffen sind. Wenn wir für die Zukunft auf ein wirkliches Zusammenleben von Menschen der verschiedensten Hautfarben und kulturellen Hintergründe hoffen, dann müssen wir daran arbeiten, uns als Menschen wahrzunehmen. Konkurrenz in der Opferrolle hingegen führt in die Sackgasse. Wichtiger als die ethnischen Unterschiede sind die sozialen Unterschiede, denn Privilegiert-Sein ist in erster Linie eine Frage von Bildung und ökonomischem Status, nicht von Hautfarbe.
Bis dahin ist noch ein weiter Weg – leider.
Das Buch ist im Hanser-Verlag erschienen, hat 445 Seiten und kostet 22 Euro.
Elke Trost
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