Don DeLillo: „Die Stille“

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In seinem kleinen Roman „Die Stille“ entwirft DeLillo ein Szenario, das im Jahr 2022 das Leben aller Menschen in New York – ob auch anderswo, bleibt offen – auf den Kopf stellt.

Ein totaler Stromausfall, ausgerechnet am Tag des Super Bowl, lässt das ganze Leben in der Stadt still stehen. Es gibt kein Licht, kein Netz, keine Handy-Verbindungen, kein Fernsehen, der Bildschirm bleibt schwarz, kein Aufzug funktioniert, keine Straßenbeleuchtung, keine U-Bahnen, keine Computersteuerung von Flugzeugen.

Am Beispiel von fünf Figuren aus dem gebildeten Mittelstand führt uns DeLillo vor, wie die Menschen mit einer solchen Extremsituation umgehen.

Max und Diane haben zum Abend des Super Bowl zur Fernseh-Party in ihre Wohnung in Manhattan eingeladen. Beide sind in fortgeschrittenem Alter, er ist Versicherungsagent, sie war Dozentin für Physik an der Universität. Anwesend ist auch Martin, ein ehemaliger Schüler von Diane, jetzt Physiklehrer an einer High School in der Bronx. Man wartet auf Jim und seine Frau Tessa. Die beiden sind noch im Flieger von Paris, sollten es aber rechtzeitig zum Anstoß um 18.30 Uhr schaffen.

Die Erzählung beginnt mit der Situation im Flieger. Jim ist müde und gelangweilt, starrt auf seinen Bildschirm, auf dem der Flug verfolgt wird. Alles ist genau messbar und geplant: Geschwindigkeit, Flughöhe, Außentemperatur, Ankunftszeit. Sie dagegen, eine bekannte Lyrikerin, sitzt mit einem Notizbuch in ihrem Sitz, um Beobachtungen und Gedanken zu notieren. Die Rituale auf einem solchen Flug sind immer die gleichen, die Mahlzeiten, die Getränke, die Ansagen des Personals. Das scheint auch dieses Mal so zu sein, bis plötzlich alle Anzeigentafeln dunkel werden, der Flieger hin- und her geschleudert wird und es schließlich zu einer doch noch glimpflichen Bruchlandung kommt.

Der routinemäßige Ablauf nach der Landung ist außer Kraft gesetzt. Statt Passkontrolle, Zoll, Ausgang findet man sich im Transporter zum Krankenhaus wieder. Auch Tessa und Jim sind diesem Ablauf unterworfen, dennoch gelingt ihnen eine kurze, individuelle Auszeit auf der Flughafentoilette, um ihr Überleben zu „feiern“.

Auch im Krankenhaus ist die Routine unterbrochen, es gibt nur Notbeleuchtung, keiner weiß so recht, wo man sich anstellen muss oder wohin man sich begeben muss. Die Angestellte, die eigentlich Auskunft erteilen soll, ist mehr mit sich selbst und der völlig unübersichtlichen Situation befasst. Der Versuch, das Unerklärliche zu verstehen, führt bei ihr zu Untergangsstimmung, zum Ruf nach den Verantwortlichen, zu Zukunftsangst und Hilflosigkeit. Sicher scheint ihr nur noch, was sie über ihre eigene Lebensgeschichte zu erzählen hat. Aber wie kann man noch wissen, wer man ist, wenn es keine Überwachung und keine Gesichtserkennung mehr gibt? Sie gibt all jenen eine Stimme, die nach einfachen Erklärungen und nach Sicherheit in einer unklaren, völlig neuen Situation suchen.

Das ist nicht die Welt von Jim und Tessa. Sie sind offenbar gewohnt, selbst Lösungen zu finden. So auch hier. Sie gelangen zu Fuß vom Flughafen zur Wohnung von Max und Diane.

Hier nun sind die Intellektuellen unter sich. Man sollte also meinen, dass diese fünf Menschen in der Lage sind, rational auf die Situation einzugehen. Umso erschreckender, dass es ihnen noch viel weniger gelingt als der Frau im Krankenhaus.

In dem Augenblick, in dem die üblichen Rituale ausfallen, bricht auch die Konversation des Small-Talks zusammen. Stattdessen versucht jeder auf seine Weise, mehr oder weniger hilflos, nach Erklärungen zu suchen. Der schwarze Bildschirm, die toten Handys – nichts lässt sich wiederherstellen, auch der Besuch in der Nachbarschaft oder auf der Straße bringt keine neuen Informationen. Da bleiben die Verschwörungstheorien: Waren es die Chinesen? War es irgendetwas in Chile oder sonst wo weit weg in der Welt? Der junge Physiker ergeht sich im Zitieren von Einstein, dessen Theorie des „Schwarzen Lochs“ im Universum ihm eine Erklärung zu geben scheint.

Innerlich driften sie auseinander, sind müde, sehnen sich nach Hause. Aber wie dorthin gelangen, wenn es keine öffentlichen Transportmittel gibt? So sind alle zum Schluss wie gelähmt und harren nur aus.

Delillo führt seine Figuren in ihren Dialogen und ihrem Verhalten ohne Erzählerkommentare vor wie auf einer Bühne, auf der jeder und jede eine Rolle spielt. Die Beurteilung der unterschiedlichen Bewältigungsstrategien überlässt er den Leserinnen und Lesern. Die aber sind in einer Zwickmühle, denn über welche Figuren der Erzählung auch immer sie ein Urteil fällen, müssen sie sich doch im selben Moment fragen, wo sie sich selbst in einer ähnlichen Situation sehen. Daraus ergibt sich im Leseprozess eine Betroffenheit, der man sich nicht entziehen kann.

Der konkrete Bezug zur Corona-Krise ist in der deutschen Fassung zwar angedeutet, aber nicht zentral; in der englischen Version kommt das Wort „Corona“ gar nicht vor. DeLillo geht es um das Verhalten der Menschen in Extremsituationen schlechthin, wenn gewohnte Abläufe und soziale Begegnungen nur sehr eingeschränkt möglich sind. Und was tun wir? Wir starren wie das Kaninchen auf die Schlange – oder wie Max auf den schwarzen Fernseher-Bildschirm, sehnen uns nach der alten „Normalität“, statt unsere Gewohnheiten umzustellen und neue Prioritäten zu setzen.

Das schmale Bändchen liest sich in etwa zwei Stunden, ruft aber gleich nach einer nochmaligen Lektüre, so dicht sind die psycho-sozialen Implikationen in der Dynamik dieser Runde von fünf Menschen. Eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre.

Der Roman ist im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen, hat 98 Seiten und kostet 20 Euro.

Elke Trost                  

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